Alfred Kubin
Zwickledt, Österreich
Viele meiner Zeichnungen versuchen meine Träume festzuhalten.10.04.1877
20.08.1959
„Meine Arche“, so nannte der Maler, Grafiker und Schriftsteller Alfred Kubin sein Haus im oberösterreichischen Zwickledt. Und sein Haus war für ihn tatsächlich eine Arche. Nicht nur dass Kubin dort eine regelrechte Menagerie um sich scharte – ein Affe, ein Leguan, afrikanische Frösche, Katzen, ein zahmes Reh, eine zahme Krähe und im Stall Schweine, Ziegen, Hühner – , es war zugleich eine Bastion, die ihm Schutz bot vor den schwarzen Fluten der Seele und den Stürmen der Welt. Schon Ernst Jünger hatte bei seinem Besuch 1937 das „Bestreben“ Kubins erkannt, „sich in das Haus einzuspinnen wie in einen Leib“. Doch auch diese robusten Mauern konnten Kubin nicht bewahren vor den Überfällen der Angst, der Depression und des Selbstzweifels, den quälenden Wegbegleitern seines Lebens.
Blickt man auf seine Kindheit und Jugend, so verwundern die seelischen Erschütterungen gewiss nicht. Diese Jahre waren geprägt von Sterben, Krankheit und Gewalt. Zunächst der frühe Tod seiner Mutter, bald darauf der Tod der Tante und Stiefmutter, dann der Tod seiner Verlobten, die Übermacht des strengen Vaters und das Versagen in Schule, Lehre und Militärdienst. Erst die Begegnung 1899 mit den phantastischen Radierungen Max Klingers während eines halbherzig betriebenen Kunststudiums in München wurde für den jungen Kubin zum Erweckungserlebnis. Ihn erfasste ein „ganzer Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder“, die den Grundstein für seinen Erfolg als Zeichner legten. Nun fand er in der Kunst einen Weg, seine Obsessionen und Alpträume zu bannen. „Viele meiner Zeichnungen versuchen meine Träume festzuhalten“, bekannte Kubin. Und so lösen seine meist mit Tuschefeder gemalten Schreckensgestalten, Monster und Dämonen immer noch Schauer der Beklemmung und des Grauens aus. Bezüge zu Goya, Ensor, Munch und Redon, aber auch zu Freud und C.G. Jung sind unverkennbar.
1904 heiratete Alfred Kubin die Witwe Hedwig Gründler. Mit ihr zog er sich aus dem umtriebigen Münchner Bohèmeleben in die ländliche Einsiedelei zurück. 1906 kaufte sich das Ehepaar ein „Schlössl“ bei Wernstein am Inn. Aber, so Kubin, es „ist gar nicht das, was man zu Recht ein Schloss nennen dürfte. Es ist nur ein kleines Landhaus – ein sogenannter Freisitz – von allerdings ehrwürdigem Alter“. In diesem zweigeschossigen Gebäude, gekrönt von einem Glockentürmchen und umgeben von einem weitläufigen Garten, sollte Kubin über fünfzig Jahre leben. Hier schuf er den Großteil seines graphischen Werks. Und hier schrieb und illustrierte er in wenigen Wochen in einem eruptiven Schaffensfuror seinen einzigen Roman „Die andere Seite“, eine apokalyptische Vision vom Zerfall der Zivilisation. Auch in Zwickledt blieb Kubin der Münchner Avantgarde verbunden. So trat er auf Wunsch Gabriele Münters 1911 dem „Blauen Reiter“ bei, eine auf den ersten Blick irritierende Verbindung, aber die Gruppe verstand sich als Sammelbecken für Künstler, die „der Dimension eines Geistigen in der Kunst“ Raum geben wollten.
Mit Hedwig kam mehr Ruhe und Stabilität in Alfred Kubins Leben, sie „rettete mich“. Dennoch lebte er auch in Zwickledt – umsorgt von zwei Hausangestellten – meist ohne sie. Hedwig kränkelte lebenslang und verbrachte viele Wochen in Kliniken und Sanatorien. Das geräumige Haus ist mit ländlich schlichtem Mobiliar eingerichtet. Ernst Jünger beschrieb es als „ein äußerst verwohntes, vielleicht aber gerade deshalb umso gemütlicheres Gehäuse“ und erklärte sich diesen Zustand damit, dass Kubin „mit der Morbidezza der Dinge vertraut“ sei. Kubins umfangreiche Bibliothek weist auf ein weiteres künstlerisches Tätigkeitsfeld hin. Er illustrierte viele Werke der Weltliteratur, darunter Thomas Mann, E.T.A. Hoffmann, Gerhart Hauptmann, Jean Paul, Hermann Hesse, Dostojewski, Edgar Allan Poe, Strindberg. In Zwickledt hat Kubin auch weitgehend unbeschadet die Zeit des Nationalsozialismus überstanden. Zwar wurden 63 seiner Werke als „entartet“ klassifiziert, er unterlag aber keinem Ausstellungsverbot und lavierte sich mehr oder weniger passiv durch die Jahre der Diktatur.
Die ländliche Abgeschiedenheit mag seinen Hang zum Einzelgängertum und zur Phantasterei noch verstärkt haben. „Das Leben ist ein Traum! Nichts scheint mir zutreffender wie dieses altbekannte Gleichnis!“ Kubin galt als hypersensibel und hypochondrisch bis zur Absurdität. Seine Frau prophezeite ihm einst spöttisch, „dass er gewiss noch einmal am Kindbettfieber eingehen würde.“ Nach Hedwigs Tod 1948 zog sich Kubin noch mehr in sein „Schlössl“ zurück. „Seltsam schaut das zerbröckelnde alte Haus auf seinen Einsiedler herab“, heißt es in einem seiner Briefe. Alfred Kubin starb 1959 und ist in Wernstein begraben. Seine Arche hat fast unberührt den Wogen der Zeit getrotzt. Noch immer hängen sein schwarzer Mantel und sein Hut an der Garderobe, noch immer ist das Haus voller Spuren des „Magiers von Zwickledt“.