Vita Sackville-West
Sissinghurst, England
Ich fühle, dass wir hier etwas Besonderes geschaffen haben; etwas Liebliches und Friedvolles ist unter unseren Händen aus Ruinen erstanden.09.03.1892
02.06.1962
Vermutlich gibt es in Sissinghurst nicht wie in Knole genau 365 Zimmer – angeblich für jeden Tag im Jahr eines. Auf dem herrschaftlichen Landsitz Knole in der südenglischen Grafschaft Kent ist Vita Sackville-West als einziges Kind von Baron Lionel Sackville aufgewachsen. Und Sissinghurst, das sie später zusammen mit ihrem Ehemann Harold Nicolson erwarb, war wohl eine Art Ersatz für den bitteren Verlust ihres geliebten Kindheitsreiches. Zeitlebens haderte sie damit, dass es ihr als Frau versagt geblieben war, den hochadligen Familiensitz zu erben, der nach damaligen Bestimmungen nur in der männlichen Linie weitergegeben werden konnte.
Aber auch Sissinghurst ermöglichte ihr ein freies, selbstbestimmtes Leben. Auf dem drei Hektar großen Gelände standen der vierköpfigen Familie mehrere Häuser und ein freistehender Doppelturm zur Verfügung. Der wundervolle Garten mit seinen durch Hecken und alte Mauern abgeschlossenen Gartenräumen – wie „die Zimmer eines riesigen Hauses“ – erweiterte das Wohnen bis hinein in die Natur. Auf diesem weitläufigen Areal hatte jeder seinen eigenen Lebensbereich. Die beiden Söhne Nigel und Ben wohnten im Cottage neben dem sogenannten weißen Garten. Dort traf sich die Familie morgens zum Frühstück, bevor jeder wieder seiner Wege ging. Das Wohnzimmer mit Bibliothek befand sich im langgestreckten Haupthaus und ist ebenso zu besichtigen wie Vitas Arbeits- und Rückzugshöhle im Schlossturm.
Heute lässt sich kaum mehr erahnen, wie viel Arbeit, Zeit und Geld die Nicolsons in Sissinghurst investiert haben. Als Vita das aus dem 16. Jahrhundert stammende Anwesen 1930 erstmals besichtigte, traf sie auf verfallene, von Unrat übersäte Gebäude. Dennoch, es war Liebe auf den ersten Blick, wie sie später bekannte: Der Ort „berührte mein Herz und meine Phantasie augenblicklich. Ich sah, was man daraus machen konnte, das Schloss war eine schlafende Schönheit.“ Dass auch einst ein früherer Vorfahr der Sackvilles hier gelebt hatte, band sie noch enger an Sissinghurst. Wider alle Vernunft kam der Kauf zustande, denn, so Harold, für das Geld „könnten wir ein wundervolles Haus, komplett mit Park, Garage, Heißwasserversorgung, Zentralheizung, historischer Bedeutung und zwei Torhäusern, rechts und links davon, erwerben.“
Die Renovierung der Gebäude nahm viele Monate in Anspruch. 1932 konnten die Nicolsons endlich einziehen. Danach begann die Arbeit im Garten. Harold, der zwischenzeitlich seine diplomatische Laufbahn aufgegeben hatte und sich politischen, journalistischen und schriftstellerischen Aufgaben widmete, war für die Planung der Gartenanlage zuständig, Vita für die opulente Bepflanzung. „Ich hätte es niemals alleine geschafft. Zum Glück hatte ich durch meine Heirat den idealen Mitstreiter gefunden. Harold Nicolson war in seinem früheren Leben bestimmt Gartenarchitekt. Er verfügt über einen angeborenen Sinn für Symmetrie und über ein geniales Talent, einem widerspenstigen Gelände Brennpunkte und lange Blickachsen abzutrotzen, eine Fähigkeit, die mir völlig abging“, bekannte Vita.
So entstand ihr gemeinsamer Gartentraum, den sie bereits ab 1938 öffentlich zugänglich machten. Vitas beliebte Kolumnen im „Observer“ und ihre BBC-Radiobeiträge zu Gartenthemen zogen viele Interessierte nach Sissinghurst, von Vita „the Shillings“ genannt, trugen sie doch mit ihren Eintrittsgeldern nicht unerheblich zum Einkommen der Nicolsons bei.
Doch Vita Sackville-West war weit mehr als nur eine erfolgreiche Gärtnerin und Gartenspezialistin. Sie war zu ihrer Zeit auch eine äußert populäre Schriftstellerin. Ihre Romane, Reiseberichte und Gedichte verkauften sich gut und verhalfen der Hogarth Press von Leonard und Virginia Woolf, in der viele ihrer Bücher erschienen, zu saftigen Gewinnen. Vita war eine Vielschreiberin. Sie schrieb nach eigenen Worten seit ihrem zwölften Lebensjahr ohne Unterlass. „Schreiben ist notwendig, sollen die Tage nicht leer vergehen. Wie sonst könnten wir dem Schmetterling des Augenblicks das Netz überstreifen?“
Freilich waren ihre ästhetischen Anschauungen im Vergleich zur damals entstehenden Moderne eher konventionell-rückwärtsgewandt. „Sie pflügt nie neuen Boden um. Sie sammelt ein, was die Flut ihr vor die Füße schwemmt. Zum Beispiel folgt sie mit instinktivem Gefühl allen überlieferten Traditionen in Sachen Einrichtung, sodass ihr Haus geschmackvoll ist, leuchtend, imposant, doch ohne etwas Neues oder Abenteuerliches. Ebenso ihre Dichtung, wage ich zu behaupten“, so Virginia Woolf. Vita wiederum befremdete die „postimpressionistische“ Kunst der Bloomsbury-Bohème. Sie fand die Bilder von Duncan Grant und Vanessa Bell „unglaublich scheußlich“.
Unkonventionell war Vita dennoch – im Schutzraum ihrer Ehe. Nach der Heirat 1913 im Alter von 21 Jahren und der Geburt zweier Söhne war relativ schnell klar, dass sie und Harold sich mehr zu gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen hingezogen fühlten. Im Wissen darum führten sie eine von Respekt, Offenheit und Freundschaft getragene Ehe. „Wir sind einander ganz sicher in diesem sonderbaren, seltsamen, distanzierten, intimen, mystischen Verhältnis, das wir außenstehenden Menschen niemals erklären können,“ schrieb Vita an Harold.
Vita, die sich einmal als „herzlose Hedonistin“ bezeichnete, konnte ihren erotischen Abenteuern nachgehen mit Violet, Mary, Margaret, Hilda, Evelyn, Olive, Virginia … „Sie ist ein Grenadier; hart, gutaussehend, männlich; neigt zum Doppelkinn“, schrieb Virginia Woolf über ihre erste Begegnung mit Vita. Im Roman „Orlando“ porträtierte sie ihre exzentrische Freundin in der androgynen Hauptfigur. Und Vita prognostizierte: „ich bin davon überzeugt, dass sich im Laufe der Jahrhunderte die Geschlechter immer mehr angleichen werden und man Fälle wie meinen nicht mehr unbedingt als unnatürlich ansehen wird.“
Sie starb in Sissinghurst im Alter von siebzig Jahren an Magenkrebs, ihre Asche wurde standesgemäß in der Sackville-Kapelle in Withyham bestattet. Heute ist Sissinghurst einer der beliebtesten Gartenanlagen in England. Doch überlassen wir Vita das Schlusswort: „Ich fühle, dass wir hier etwas Besonderes geschaffen haben; etwas Liebliches und Friedvolles ist unter unseren Händen aus Ruinen erstanden.“