Angelos Sikelianos
Delphi, Griechenland
Delphi muss ein globales Zentrum des Geistes, der Kunst und der Kreativität werden15.03.1884
19.06.1951
Was für eine faszinierende Vorstellung, hätten wir heute neben dem sportlichen Wettstreit bei den Olympischen Spielen auch internationale Spiele des musisch-kulturellen Wettstreits. Eine kurze Zeit lang schien diese Vision tatsächlich Wirklichkeit zu werden. Der griechische Dichter Angelos Sikelianos und seine amerikanische Frau Eva Palmer hatten sich ihr in den 1920er Jahren mit Haut und Haaren verschrieben. Am authentischen Ort, in Delphi, wollten sie die antiken Pythischen Spiele für die Gegenwart mit neuem Leben erfüllen. Denn in Delphi, diesem legendären „Nabel der Welt“ fanden beinahe tausend Jahre lang im vierjährigen Rhythmus die musischen Pythischen Spiele zu Ehren des Gottes Apollon statt. Sie genossen in der griechischen Welt ein ebenso hohes Ansehen wie die athletischen Spiele in Olympia.
Aus ganz Griechenland strömten damals Mitwirkende und Zuschauer herbei, ein dreimonatiger heiliger Friede garantierte allen eine sichere An- und Abreise. Rund acht Tage lang dauerten die Festspiele in Delphi. Sie wurden mit einer feierlichen Huldigung Apollons und einem sich anschließenden Festgelage eröffnet. Danach begann im antiken Theater der eigentliche künstlerische Wettstreit in den Disziplinen Musik, Theater, Tanz und Dichtung. Im oberhalb liegenden Stadion fanden zeitgleich sportliche Wettkämpfe im Diskuswerfen, Speerwurf und Ringen statt.
Gekämpft wurde allein um der Ehre willen. Wie in Olympia mit einem Kranz aus Olivenzweigen, so wurden in Delphi die Sieger mit einem Kranz aus Lorbeer, dem heiligen Baum des Apollon, ausgezeichnet. 394 n.Chr. ging diese große Tradition der panhellenischen Festspiele zu Ende. Sowohl die Pythischen wie auch die Olympischen Spiele wurden vom römischen Kaiser Theodosius verboten.
Viele Jahrhunderte später besann sich Angelos Sikelianos, einer der bedeutendsten neugriechischen Dichter seiner Zeit, der erstmals 1909 mit seinem Gedichtband „Der Schwärmer“ in literarischen Kreisen Aufsehen erregt hatte, auf diese antike Festspieltradition. Sikelianos hatte mit Eva Palmer eine kongeniale Partnerin gefunden, die ebenso wie er für die Verwirklichung der „Delphischen Idee“ brannte. Seit 1911 verbrachten sie, offenbar angezogen vom archaischen Zauber des Ortes, die Ferienzeiten in Delphi.
1924 fanden sie in Delphi, unweit der archäologischen Ausgrabungsstätte, den passenden Platz für den Bau eines eigenen Hauses. Am Hang des Parnass-Gebirges entstand 1926 ein zweistöckiges Landhaus aus Steinquadern, mit schönen Bogenfenstern und weitem Blick über das Amfissa-Tal und die Meeresbucht. Zur gleichen Zeit nahm die Idee einer Wiederbelebung der antiken Pythischen Spiele immer mehr Gestalt an. „Delphi muss ein globales Zentrum des Geistes, der Kunst und der Kreativität werden“, davon war Angelos Sikelianos überzeugt. Die musischen Festspiele sollten ein Beitrag zum Weltfrieden und zur Völkerverständigung sein. Unter der künstlerischen Leitung von Angelos und Eva Sikelianos fanden 1927 und 1930 dann die ersten neuzeitlichen Pythischen Spiele auf dem Boden der antiken Ausgrabungsstätte in Delphi statt. Der Eintritt für die Besucher war kostenlos. Es gab eine Volkskunst-Ausstellung, ebenso wurden zwei Tragödien von Aischylos sowie byzantinische Musik aufgeführt. Eva webte viele der Theaterkostüme selbst. Ihr Webstuhl ist noch heute im ehemaligen Haus der Sikelianos zu besichtigen. Zahlreiche Fotos, Dokumente, Kostüme und Bühnenrequisiten zeugen von jener Zeit.
Doch trotz Evas großzügiger finanzieller Unterstützung reichten die Mittel für weitere Delphische Festspiele nicht aus. Eva kehrte 1933 verschuldet in die USA zurück, Angelos heiratete 1940 Anna Karamani. Von den USA aus kämpfte Eva ebenso wie der griechische Schriftstellerverband vergeblich für die Verleihung des Literaturnobelpreises an Angelos Sikelianos.
Nach dessen Tod 1951 kehrte Eva zurück nach Griechenland. Sie starb dort ein Jahr später und ist in Delphi, ihrem Herzensort, begraben. Ihrer beider Lebenstraum von einer Neubelebung der Pythischen Spiele harrt noch immer einer kraftvollen Umsetzung. Bis heute fehlt den Olympischen Spielen ein kulturelles Pendant, ein Wettstreit der Künste auf höchstem Niveau – ähnlich weltumspannend, ähnlich völkerverbindend, ähnlich öffentlichkeitswirksam. Wo könnte diese Neubelebung besser erfolgen als in Delphi, dem kultischen und geistigen Zentrum der griechischen Antike, dessen jahrtausendealte Magie noch immer spürbar ist.