Henry Clews

Mandelieu-la-Napoule, Frankreich

Ich brauche die Einsamkeit, hohe Mauern und Abgeschiedenheit, einen verborgenen Winkel, um mit meinen Träumen allein zu sein.

23.04.1876

28.07.1937

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„Once upon a time…“ – Märchenhaft scheint es im Schloss „La Napoule“ zugegangen zu sein. Zumindest weckt das Motto über dem Eingangsportal genau diese Erwartungen. Und tatsächlich, es ist der Eintritt in eine andere Zeit und in eine andere Welt, erschaffen von Henry und Marie Clews. Freilich gehörten dazu nicht nur die nötige Imaginationskraft und das nötige Können, sondern auch das nötige Geld. All das hatten die Clews, stammten sie doch beide aus steinreichen Familien der amerikanischen Oberschicht. Mit dem Kauf des damals halbverfallenen mittelalterlichen Schlosses an der Côte d’Azur erfüllten sie sich 1918 ihren Lebenstraum. Denn dieses Anwesen in der Nähe von Cannes bot ihnen die geeignete Kulisse, um sich in ihre Traumwelten hineinzuphantasieren.

Nicht zufällig wählte der Maler und Bildhauer Henry Clews Don Quijote zu seinem Alter Ego. Die Titelfigur in Cervantes Roman flieht in ein idealisiertes Mittelalter und versucht, als Ritter verkleidet gegen das Unrecht und für sein Liebesglück zu kämpfen. Diese Adaption ging bei Clews so weit, dass er seinen schwarzen Diener „Sancho“ nannte und seinen 1915 geborenen Sohn „Mancha“. Sich selbst attestierte er in der vor dem Schlossportal aufgestellten Figur des „God  of Humormystics“ die Ähnlichkeit mit Don Quijote. Diese dürre, nackte Gestalt mit einem Vogelnest auf dem Kopf und einer Rose in der Hand schuf er als Hochzeitsgeschenk für seine Frau Marie. Eine Reihe von grotesk überzeichneten Gesichtern zu Füßen der Skulptur stellt die dekadente Gesellschaftsschicht seiner Zeit dar, deren Arroganz, Bosheit und Verlogenheit Clews immer wieder in seinem Kunstschaffen thematisierte.

An vielen Stellen im Schloss sind solch satirisch verzerrte Figuren platziert. Im Salon etwa die Porträtbüsten zweier amerikanischer Kunstkritiker, die an Clews Werken kein gutes Haar gelassen hatten. Clews karikierte sie im Gegenzug als „Gott der Fliegen“ und „Gott der Spinnen“. Auch seine ältere Schwester Elsie, eine erfolgreiche Wissenschaftlerin und Frauenrechtlerin, kam nicht gut weg. Seine Antipathie ihr gegenüber ging so weit, dass er seine gleichnamige Ehefrau, Elsie Whelan Goelet, in Marie umbenannte. Bei diesem Namenswandel spielte sicher auch der mittelalterliche Marienkult eine Rolle, dem Clews im Schloss huldigte.

Mit seinem Wahlspruch „Mirth, Myth and Mystery“ (Heiterkeit, Mythos und Geheimnis) distanzierte sich Clews von der nüchternen Welt seines Herkunftsmilieus, in dem es ihm nie gelungen war zu reüssieren. Er war an drei Universitäten ebenso wie im Bankgeschäft des Vaters gescheitert, und auch seine Kunst, der sich der Autodidakt danach zuwandte, stieß bei der Kritik auf wenig Wohlwollen. Fernab von seiner amerikanischen Heimat fand er schließlich im Schloss La Napoule seinen Rückzugsort: „Ich brauche die Einsamkeit, hohe Mauern und Abgeschiedenheit, einen verborgenen Winkel, um mit meinen Träumen allein zu sein.“

In ihrem Märchenschloss kultivierte das exzentrische Paar seine Spleens, richtete elegante Partys und folkloristische Feste aus und liebte es, in selbstentworfenen mittelalterlichen Kostümen aufzutreten. Der gotische Speisesaal mit mittelalterlichem Mobiliar, bunten Glasfenstern und unechten Taufbecken bot dafür genau das richtige Ambiente. Auch zahlreiche Tiere, die sich damals frei im Park tummelten, gehörten zur Schlossgemeinschaft.  Pfauen und  Schwäne waren darunter, ebenso Doggen, genannt Ego, Tory und Snob. Und wie romantisch, auch Brieftauben gab es auf „La Napoule“. Überhaupt nahmen Tiere, auch Phantasietiere, in Clews Kunst großen Raum ein. Im Vestibül etwa findet sich über der Männertoilette ein Pfau, Symbol für Hochmut, über der Frauentoilette ein Huhn mit Kücken, Symbol für Mutterschaft und Frivolität. Fratzenhafte Figuren, die an die Kunst afrikanischer oder südamerikanischer Völker erinnern, dekorieren die Mauern und Kapitelle des Schlosses.

Am faszinierendsten aber sind in Clews Atelier die modellierten nackten Greisenkörper. Diese Skulpturen, am Vorbild Rodin geschult, zeigen das Alter und den körperlichen Verfall in gnadenloser Schärfe und in spannungsreichem Kontrast zum edlen Marmor und Alabaster, aus denen sie geformt sind.

Das Paar hatte bei der Restaurierung seines Traumschlosses Hand in Hand gearbeitet. Beide widmeten sich der Architektur, Marie zudem der Gartengestaltung und Henry der Bildhauerei.  Zur Meerseite hin ließen sie eine langgezogene Terrasse auf fünfzehn Stützbögen anlegen. Von weitem erscheint das Anwesen noch heute wie eine monumentale Festungsanlage. An vielen Stellen auf dem Schlossgelände ist das Monogramm der Clews zu finden, H und M, umschlugen von C. Selbst seinen Tod hat das Paar romantisch inszeniert. Für die beiden von Henry entworfenen Steinsarkophage wurde eigens ein Turm gebaut, der die zwei alten Türme kongenial ergänzt. Die Steinsärge sind einen Spalt weit geöffnet, angeblich damit die Seelen der beiden Liebenden entweichen und in einer geheimen, verschlossenen Kammer oben im Turm wieder zusammenfinden können. Sehr anrührend schrieb Marie Clews in ihren Memoiren: „Jede hundert Jahre werden wir durch die Stille des Grabes sprechen: ‚Bist Du da, Marie?‘.  Und die Antwort wird sein: ‚Ich bin da, Henry, nah bei Dir.‘ Und die Stille wird uns für weitere hundert Jahre umhüllen.“ Bis zu dem Tag, so glaubten sie, an dem ihre Seelen vereint aus dem weit geöffneten Turmfenster übers Meer in die Ewigkeit flögen. Einfach märchenhaft.