Henry van de Velde
Weimar, Deutschland
Wer zu Anfang nur ein in allen Einzelheiten nützliches Ding schaffen wollte, gelangt zur reinen Schönheit.03.04.1863
25.10.1957
Wenn auch heute noch das “Haus Hohe Pappeln“ an der Belvedere Allee manchem wie ein gestrandeter Dampfer erscheint, wie irritierend muss dieses Wohnhaus des belgischen Architekten und Designers Henry van de Velde dann erst auf die damaligen Zeitgenossen gewirkt haben. Dass es nach über hundert Jahren heute noch existiert, ist ein Glücksfall, denn es veranschaulicht geradezu idealtypisch die kunstreformerischen Ideen des Multitalents van de Velde.
1902 wurde Henry van de Velde von Großherzog Wilhelm Ernst nach Weimar geholt. Treibende Kräfte dabei waren Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche. Ziel war es, künstlerisch beratend und inspirierend auf das ansässige Handwerk einzuwirken und es langfristig konkurrenzfähiger zu machen. Doch Harry Graf Kessler und Henry van de Velde hatten noch weit Größeres im Sinn. Die kleine Residenzstadt sollte nach der Weimarer Klassik um Goethe und Schiller und der musikalischen Erneuerungsbewegung um Wagner und Liszt ein weiteres Mal zum Nabel der Kunstwelt werden.
Henry van de Velde ging mit Elan an seine Aufgabe. Als Direktor der Weimarer Kunstgewerbeschule gründete er das Kunstgewerbliche Seminar, um seine Vorstellung von einem „Neuen Stil“ breitenwirksam umzusetzen. Denn noch immer war der Historismus, der sich an vergangenen Stilepochen orientierte und monumental und überladen daherkam, der staatskonforme Kunstgeschmack im Wilhelminischen Kaiserreich. Angesteckt von den Ideen der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung um William Morris und John Ruskin ging es van de Velde um ein neues Kunstverständnis, eine natürliche Verbindung von Schönheit und Zweckmäßigkeit in allen Lebensbereichen. Deshalb distanzierte er sich nicht nur vom muffigen Historismus, sondern auch von der überbordenden Dekorverliebtheit des Jugendstils. Van de Veldes Kunstverständnis ließ nur eine abstrakte, klare Formensprache gelten: „Die Zeit des Ornaments aus Blüten, Haaren und Weibern ist vorbei.“
Henry van de Velde dachte ganzheitlich. Er schuf nicht nur Gebäude, sondern auch deren komplette Inneneinrichtung: Möbel, Tapeten, Buchumschläge, Kerzenständer, Brieföffner, Besteck, Geschirr bis hin zum Menükartenhalter und zur Hummerzange. Alles war detailgenau aufeinander abgestimmt. Auch Kleidung und Schmuck der Dame des Hauses unterlagen seinem umfassenden Stilwillen. Diese in ihrer Makellosigkeit und Eleganz durchkomponierte Wohnwelt sollte als Gesamtkunstwerk wirken. „Zum Leben in solchen Räumen gehören besonders gebildete und sogar besonders gekleidete Menschen; ganz lebendig werden diese Interieurs erst, wenn sich dekorativ gekleidete Frauen darin bewegen“, so der Kunstkritiker Karl Scheffler.
Auch an sein eigenes Wohnhaus, das er 1908 mit seiner Frau Maria und den fünf Kindern bezog, legte van de Velde diese Gestaltungskriterien an. Von außen wirkt das verschachtelte Haus mit dem tiefgezogenen Walmdach und der groben Travertinfassade trutzig verschlossen. Ganz anders hingegen ist die Anmutung in den Innenräumen. Van de Velde baute seine Häuser von innen nach außen. Die organische Anordnung und die Funktion der Räume standen für ihn im Vordergrund, erst danach folgte die Außengestaltung.
Schon der Eingangsbereich im Hochparterre, in japanischem Rot gehalten, zeigt exemplarisch van de Veldes innovative Gestaltungsideen. Schlitzschrauben und Lüftungssiebe sind sichtbar, ihre Materialität wird raffiniert als Dekorationselement eingesetzt, denn Ästhetik und Funktionalität waren für van de Velde kein Widerspruch. „Wer zu Anfang nur ein in allen Einzelheiten nützliches Ding schaffen wollte, gelangt zur reinen Schönheit“, so sein Credo.
Durch den Flur gelangt man zur lichtdurchfluteten Wohndiele. Sie ist das eigentliche Zentrum des Hauses, von dem aus alle anderen Bereiche abgehen: die repräsentativen Räume – Salon, Speisezimmer, Arbeitszimmer – die durch Schiebetüren in eine imposante Raumfolge verwandelt werden können, die über eine geschwungene Treppe erreichbaren Privaträume der Veldes im Obergeschoss sowie das Nebentreppenhaus, das Küche und Kinderspielzimmer im Souterrain mit den übrigen Geschossen verband. Dort befindet sich auch der Speisenaufzug und ein kleines Fenster zum Esszimmer, durch das die Bediensteten diskret beobachten konnten, wann es Zeit für das Auf- und Abtragen der Mahlzeiten war. Durch dieses Nebentreppenhaus – ein kluger Trick, den zum Beispiel auch sein Architekturkollege Victor Horta anwandte – konnte das Dienstpersonal und auch die Kinderschar vom sonstigen Leben im Haus separiert werden. Es ermöglichte den Kindern, die nach den liberalen Ideen der damals modischen Lebensreformbewegung erzogen wurden, nach Herzenslust herumzutoben, wuchsen sie doch auf „in der Unschuld und Fröhlichkeit eines sorglosen Lebens ohne Krankheiten, ohne konventionellen Zwang und ohne von allzu viel Arbeiten gequält zu werden, in der Fülle ihrer Kräfte und in der freien Entwicklung ihres Wesens.“ Freilich kamen dem Vater zuweilen auch Zweifel an dieser lockeren Erziehungsmethode, wie wir aus den Tagebüchern Harry Graf Kesslers wissen.
Auch der Garten war in das Gestaltungskonzept van de Veldes eingebunden. Dem Hauseingang vorgelagert ist ein Rondell, das den Kutschen ein bequemes Auffahren ermöglichte. Der hintere Kiesplatz mit dem Brunnen und der Figur des „Knieenden Jünglings“ von George Minne war vom Haus aus über die Terrasse zugänglich. Der Nutzgarten der Familie lag auf der rückwärtigen Hausseite.
Diese Wohnidylle endete jäh mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Das ausländerfeindliche Klima, das auch den Großherzog auf Distanz zu dem Belgier gehen ließ, veranlasste van de Velde, seine Kündigung einzureichen. Erst 1917 gelang die Ausreise in die Schweiz. Doch van de Velde, der die fünfzehn Weimarer Jahre in seiner Autobiographie als „Hoch-Zeit“ erinnerte, hinterließ in Weimar glücklicherweise viele heute noch sichtbare Spuren, so zum Beispiel die Inneneinrichtung des Nietzsche-Archivs und die Kunstgewerbeschule. Genau dort wurde 1919 das Staatliche Bauhaus gegründet unter der Leitung von Walter Gropius, den van de Velde als seinen Nachfolger vorgeschlagen hatte. Dies ist sicherlich die bedeutendste Spur Henry van de Veldes, die weit in die Zukunft des Bauens hineinreicht. Im Bauhaus leben van den Veldes Gestaltungsideen weiter, im „Haus Hohe Pappeln“ liegen ihre Wurzeln.