Charles Dickens

London, England

Foto: Wikimedia commons/Antoine Claudet (Ausschnitt)

Wie sonderbar ist es, niemals zur Ruhe zu kommen.

07.02.1812

09.06.1870

dickensmuseum.com

Der Einzug der jungen Familie Dickens in die Doughty Street fiel genau in jenes Jahr, in dem Queen Victoria den englischen Thron bestieg und die lange Ära des sogenannten Viktorianischen Zeitalters einläutete. Wie in keinem anderen schriftstellerischen Werk findet dieses Viktorianische Zeitalter, seine sozialen Missstände wie seine wachsende Prosperität, einen so umfassenden, detailgenauen Niederschlag wie im Werk von Charles Dickens.

1837 hatte der 25-jährige Charles mit seiner Frau Catherine und dem erstgeborenen Sohn das Londoner Stadthaus bezogen. Noch zwei Kinder kamen dort zur Welt, sieben weitere sollten im Lauf der nächsten Jahre folgen. Das dreistöckige Backsteinhaus aus dem Jahr 1809, das die damalige Wohnatmosphäre auch heute noch in vielen originalen Details abbildet, kann mit Recht als Keimzelle von Dickens gesellschaftlichem und literarischem Aufstieg gelten. Hier entstanden seine Romane „Oliver Twist“ und „Nicholas Nickleby“.

Gleich im Eingangsbereich fällt der Blick auf den Gehstock und die lederne Aktentasche des einstigen Hausherrn. Charles Dickens war ein passionierter Stadtwanderer, der gerne des Nachts durch die Londoner Straßen zog und sich für seine schriftstellerische Arbeit inspirieren ließ. Nebenan im Speisezimmer ist der Tisch üppig gedeckt. Dickens gab gerne Gesellschaften, er galt als beliebter, unterhaltsamer Gastgeber. Im darüberliegenden Salon steht noch sein originales Lesepult, das er nach seiner Vorstellung hatte anfertigen lassen. Das Publikum sollte bei den Lesungen beobachten können, wie er seine Bücher durch den Einsatz des ganzen Körpers szenisch zum Leben erweckte. Ein Teil des Inventars im Haus stammt von Dickens späterem Landsitz Gad’s Hill Place. So auch sein Schreibtisch und der Schreibtischstuhl im Arbeitszimmer. Das Schlafzimmer der Eheleute, das Kinderzimmer im Dachgeschoss sowie die Wirtschaftsräume der Bediensteten im Untergeschoss geben ein gutes Bild vom Leben im Hause Dickens.

Charles Dickens war freilich nicht nur ein gefeierter Autor und Rezitator, sondern auch ein äußerst geschäftstüchtiger Unternehmer und Marketingstratege. Er gab mehrere Zeitschriften heraus, kontrollierte die Vertriebswege seiner Werke und perfektionierte den Verkaufstrick, Romane kapitelweise in Fortsetzungen abzudrucken. Die Cliffhanger-Methode war bestens geeignet, um die Neugier seiner Leserschaft anzustacheln, denn Dickens kannte sich nur zu gut mit packendem Lesefutter aus. Texte sollten seiner Ansicht nach sein „wie durchwachsener Speck. Ein bisschen Fett, ein bisschen Fleisch.“ Darin war dieser Charles Dickens ein Meister. Sein schriftstellerisches Werk versammelt ein pralles Panoptikum an Figuren – exzentrische, komische, gute, böse und manchmal böse, die gut werden, wie der Geizhals Ebenezer Scrooge in der legendären „Weihnachtsgeschichte“. Wenn es seinen sozialkritischen Zielen diente, nahm Dickens auch ein Abgleiten in die Kolportage in Kauf, Hauptsache die Geschichte „hat die Öffentlichkeit direkt an der Gurgel gepackt.“

Die Ursache für seine rastlose Produktivität und sein Getriebensein nach sozialem Aufstieg und Wohlstand wird gemeinhin in seiner Kindheit vermutet. Durch die Verschuldung und Inhaftierung seines Vaters war der 12-jährige Charles gezwungen gewesen, in einer Schuhwichsefabrik am Themseufer zu schuften und für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Diese frühe Erfahrung von hilflosem Ausgeliefertsein findet in seinen jugendlichen Helden Oliver Twist und David Copperfield eindrucksvollen literarischen Widerhall. „Mein ganzes Wesen war vom Schmerz der Erniedrigung so durchdrungen“, schrieb Charles Dickens später, dass er selbst jetzt, wo er „berühmt, geschätzt und glücklich“ sei, in den Träumen immer noch „in trostloser Einsamkeit zurück in jene Zeit meines Lebens“ wandere.

Diese leidvollen Kindheitserfahrungen verschwieg Dickens sein Leben lang. Auch die Liaison mit der beinahe dreißig Jahre jüngeren Schauspielerin Ellen Ternan, der er sich 1858 nach der Trennung von seiner Ehefrau zuwandte, blieb ein gutgehütetes Geheimnis. Öffentlich schob er die Schuld am Scheitern seiner Ehe auf Catherine. Angeblich habe er ihre vielen Schwangerschaften und ihre Vernachlässigung der Kinder sattgehabt. Sein Hang zur Geheimniskrämerei nahm gelegentlich aber auch skurrile Züge an, etwa wenn er das Publikum partout nicht wissen lassen wollte, dass ihn seine Sehschwäche dazu zwang, eine Brille zu tragen.

Ein Schlaganfall machte dem maßlosen Arbeitspensum und den umtriebigen Lesetourneen, die ihn bis nach Amerika geführt hatten, ein Ende. „Wie sonderbar ist es“, heißt es in einem seiner Briefe, „niemals zur Ruhe zu kommen, niemals zufrieden zu sein, und immer nach etwas zu suchen, was nie erreicht wird, und immer Plots und Pläne im Kopf zu haben, sich immer zu kümmern und zu sorgen, und doch wie klar, dass es so sein muss, und dass man von einer unsichtbaren Macht vorangetrieben wird, bis die Reise zu Ende ist.“ Charles Dickens starb mit 58 Jahren und wurde gegen seinen Willen in der Londoner Westminster Abbey bestattet. Queen Victoria, die Dickens-Verehrerin, überlebte ihn um mehrere Jahrzehnte. Erst mit ihrem Tod 1901 ging das Viktorianische Zeitalter dann tatsächlich zu Ende.