Anna Seghers

Berlin, Deutschland

Foto: Akademie der Künste, Berlin/Anna-Seghers-Archiv © Anne Radvanyi (Ausschnitt)

Denn wir schreiben ja nicht um zu beschreiben, sondern um beschreibend zu verändern.

19.11.1900

01.06.1983

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„Anna Seghers: Deutsche, Jüdin, Kommunistin, Schriftstellerin, Frau, Mutter. Jedem dieser Worte denke man nach. So viele einander widersprechende, scheinbar einander ausschließende Identitäten, so viele tiefe, schmerzliche Bindungen, so viele Angriffsflächen, so viele Herausforderungen und Bewährungszwänge, so viele Möglichkeiten, verletzt zu werden, ausgesetzt zu sein, bedroht bis zur Todesgefahr.“ Anna Seghers hat all diese Existenzformen gelebt, die Christa Wolf  ihrer Schriftstellerfreundin hier zuschreibt. Es war alles andere als ein bequemes, vorausplanbares Leben.

Als Einzelkind in eine gutsituierte Mainzer Familie hineingeboren, entfernte sich Netty Reiling, so ihr Geburtsname, durch Kunstgeschichtsstudium und Promotion, vor allem aber durch ihre Heirat mit dem kommunistisch engagierten Ungarn László Radványi, mehr und mehr von ihrem großbürgerlichen Herkunftsmilieu. Lebenslang verschrieb sie sich dem Kampf für soziale Gerechtigkeit und Frieden. 1933, als auch ihre Bücher von den Nazihorden verspottet und verbrannt wurden, konnte sie sich in letzter Minute ins Ausland retten. Paris, dann Marseille waren die Fluchtstationen. Unter Lebensgefahr gelang es ihr 1941, zusammen mit ihrem Mann und den Kindern Peter und Ruth in Mexiko sicheren Boden unter die Füße zu bekommen.

In den vierzehn Jahren des Exils entstanden ihre bedeutendsten Werke. Ihr Roman „Das siebte Kreuz“ schildert das gesellschaftliche Klima der Einschüchterung und Gewalt im nationalsozialistischen Deutschland, aber auch den Sieg des Einzelnen über die Macht des totalitären Regimes. Das Buch, zuerst in englischer Sprache erschienen und zwei Jahre später in Hollywood verfilmt, wurde damals an die amerikanischen Soldaten als Motivationslektüre im Krieg gegen Hitlerdeutschland verteilt. Der Roman „Transit“ beschreibt die verzweifelte Situation der vor den Nationalsozialisten Geflohenen im Kampf um eine Schiffspassage ins rettende Ausland. In der autobiografischen Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ schaut Anna Seghers zurück auf die inneren und äußeren Zerstörungen, die der Krieg in ihrem Mainzer Freundeskreis angerichtet hatte.

Auch im mexikanischen Exil blieben Deutschland und die deutsche Sprache ihre geistige Heimat. 1947 reiste Anna Seghers zunächst allein zurück in das zerstörte Nachkriegsdeutschland. „Ich habe das Gefühl, ich bin in die Eiszeit geraten, so kalt kommt mir alles vor“, schrieb sie an ihren Freund Georg Lukács. Bewusst entschied sie sich für Ost-Deutschland, das ihre Hoffnung auf eine neue sozialistische Gesellschaftsordnung einzulösen versprach. Mit den Jahren wurde sie jedoch immer stärker vom DDR-Staat vereinnahmt. Zahlreiche kulturpolitische Ämter, Kongresse, Vorträge und Sitzungen nahmen sie, die prominente Vorzeigeautorin der DDR, bis an den Rand der Erschöpfung in die Pflicht.

1955 zog sie mit ihrem Mann in ein unscheinbares Mietshaus in der damaligen Volkswohlstraße in Berlin-Adlershof. Ein sprechender Name, der so gut zu Seghers politischen Idealen passte. Auch wenn die Widersprüche dieser von ihr so sehr erhofften und erkämpften sozialistischen Gesellschaftsordnung im alltäglichen Leben immer offener zutage traten und von ihr schmerzlich wahrgenommen wurden, hielt sie an ihren Überzeugungen fest, auch als Schriftstellerin: „Denn wir schreiben ja nicht um zu beschreiben, sondern um beschreibend zu verändern.“

Ihre Wohnung im dritten Stock, in der sie bis kurz vor ihrem Tod lebte, ist ein Abbild ihrer Bescheidenheit. Einfaches, solides Mobiliar im Stil der 1950er Jahre, das meiste original erhalten. Anna Seghers hatte es abgelehnt, zusammen mit der DDR-Elite in einer repräsentativen Berliner Villengegend zu wohnen. „Ich sah jetzt mit wachen Augen, dass es Menschen gab, die schlechter als andere gekleidet waren, dass es Menschen mit schlechten Schuhen gab. Ich scheute mich, bessere Schuhe zu tragen als diese.“ Diese früh formulierte Haltung zeigt sich auch in ihrem genügsamen Lebens- und Wohnstil.

Ihre rund zehntausend Bücher, lebenslange Wegbegleiter, die eine ähnliche Wanderschaft hinter sich hatten, wie die Bewohnerin selbst, reihen sich im Wohn- und Arbeitszimmer wie auch im übervollen Flur bis zur Decke. Die Sitzbank am braunen Kachelofen, ihrem „Holländerofen“, wo in der Ofenröhre noch immer ihre Teekanne steht, war ein Lieblingsplatz der Schriftstellerin. Vielleicht saß sie dort auch mit dem ein oder anderen ihrer zahlreichen Gäste, zum Beispiel mit Halldór Laxness oder Jorge Amado. Die kleine Küche mit dem alten Gasherd und dem so zeittypischen Wachstuch auf dem Küchentisch bestürzt geradezu in ihrer Schlichtheit.

In ihrem Arbeitszimmer mit angrenzendem „kleinwinzigem Balkon“, auf dem sie oft schrieb und auf dem sie sich „wie auf einem Mastkorb“ fühlte, steht ihr Schreibtisch, ein einfacher Holztisch, darauf noch immer ihre Brille und die aus dem Exil mitgebrachte Remington-Schreibmaschine. Ihr Blick ging beim Schreiben auf einen (damals) originalen Brief Heinrich Heines an dessen Mutter. Anna Seghers hatte das Autograph ihres Lieblingsdichters kurz vor ihrer Flucht von ihrem Vater Isidor Reiling, einem Kunst- und Antiquitätenhändler, geschenkt bekommen. Über die ganzen Exiljahre hinweg, sogar in Zeiten materieller Not, gab sie es nie aus den Händen. Auch Heine hatte ja zur Schicksalsgemeinschaft deutscher Exilanten gehört. Er habe, so Anna Seghers, „alle Stadien der Emigration mit uns geteilt: die Flucht und die Heimatlosigkeit und die Zensur und die Kämpfe und das Heimweh.“ Heines Brief aus dem Jahr 1848 war zugleich das emotionale Band zu ihrem Vater, der 1940, zwei Tage nach dem erzwungenen Verkauf seines Hauses und Geschäfts, verstarb, sowie zu ihrer Mutter, die 1942 im Konzentrationslager umkam.

In diesen Räumen in einem unspektakulären Viertel am Berliner Stadtrand wird man so plötzlich Zeuge zweier deutsch-jüdischer Schriftstellerleben. Ein Mann und eine Frau, die in unterschiedlichen Zeiten an Deutschland litten und dennoch nie ihre patriotische Verbundenheit aufgaben. Die Akademie der Künste, unter deren Obhut die Seghers-Wohnung heute steht, ermöglicht uns das Erinnern und Wachhalten dieser beiden deutsch-jüdischen Schicksale.