Hermann Hesse
Gaienhofen, Deutschland
Es könnte fast ein Idyll sein.02.07.1877
09.08.1962
Zum ersten Mal im Leben wurde der Schriftsteller Hermann Hesse wirklich sesshaft. Nach dem Erfolg seines Romanerstlings „Peter Camenzind“ und der Heirat mit der Schweizerin Maria Bernoulli, genannt Mia, war der 27-jährige Hesse hinreichend bereit für eine bürgerliche Existenz: „Ich glaube schon, dass das Verheiratetsein seine Gräten haben wird, hoffe aber damit fertig zu werden.“ Gaienhofen auf der Halbinsel Höri schien den Jungvermählten der passende Ort für den Nestbau zu sein. „Stille, Luft und Wasser gut, schönes Vieh, famoses Obst, brave Leute“, schrieb Hermann Hesse an Stefan Zweig. Von 1904 bis 1912 lebten die Hesses am Bodensee. Alle drei Söhne wurden dort geboren, „im Schatten großer Bäume“ und im Geist der damaligen Lebensreformbewegung sollten sie aufwachsen. Nach drei Jahren zur Miete wagte sich das Paar 1907, mit einem kräftigen zinslosen Darlehen des Baseler Schwiegervaters ausgestattet, an den eigenen Hausbau. Das Gebäude, von Hans Hindermann im Schweizer Landhausstil erbaut, lag etwas außerhalb des Ortes in freier Natur mit weitem Blick auf den See, die Insel Reichenau und die Schweizer Berge. Es sollte lebenslang das einzige eigene Domizil Hermann Hesses bleiben.
Das Haus mit seiner Fassade aus türkisblauen Holzschindeln und petrolgrünen Fensterläden galt in der damaligen dörflichen Umgebung als fortschrittlich, verfügte es doch bereits über Wasserleitungen in Küche und Bad. Im Erdgeschoss fand das alltägliche Leben statt, vor allem im holzgetäfelten Wohnzimmer mit Mias Klavier, der Eckbank und dem Esstisch. Nebenan bewohnte Mia ein kleines Zimmer mit bezauberndem Rundfenster zur Seeseite hin. Das Kinderzimmer lag zwei Stufen erhöht, denn nach reformpädagogischer Vorstellung sollte die Zimmerhöhe so niedrig sein, dass die Kinder jederzeit ohne Mühe zum Fenster hinausschauen konnten. Im Kontrast zu den zarten Aquarelltönen dieser Räume wurden in der schmalen Küche Schränke in kräftigem Blau eingebaut.
Hermann Hesses Refugium lag im ersten Stock. Sein Studierzimmer, „zu dem von allen Seiten eine so weite, lichte, unverdorbene Landschaft hereinschaut“, ist noch immer mit dem grünen Kachelofen, den Bücherregalen und dem Schrank für die Kunstmappen ausgestattet. Sein Schreibtisch, den er sich in der Gaienhofener Zeit nach eigenen Entwürfen hatte schreinern lassen, begleitete ihn sein Leben lang und ist heute im ganz in der Nähe liegenden Hesse-Museum ausgestellt.
Auch der Garten, der das Haus von allen Seiten umschließt, wurde von Hesse selbst im Geiste der Gartenreformbewegung geplant und angelegt. „Es ist ja etwas von Schöpferlust und Schöpferübermut beim Gartenbau“, schrieb Hesse. „Man kann sich für den Sommer Lieblingsfrüchte, Lieblingsfarben, Lieblingsdüfte schaffen.“ Eine Sonnenblumenallee führte zum Kiesplatz mit den Kastanienbäumen, die ihn an seine Kindheit im schwäbischen Calw erinnern sollten. Dieser Gartenweg wurde von Hesse mangels geeigneter Steine mit alten Zeitschriften und ungelesenen Rezensionsexemplaren befestigt: „dort unten liegt hübsch geschichtet die ganze deutsche Literatur von heute“, kommentierte er seine unkonventionelle Bauweise.
„Es könnte fast ein Idyll sein“, schrieb Hesse 1909, aber das Unbehagen wuchs. Sein Einzelgängertum, seine Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Ruhe wurden übermächtig: „Seit die Ofenbehaglichkeit anfing, befällt mich öfter ein Zorn über dies bequeme Hinleben.“ Immer häufiger entfloh Hesse der Häuslichkeit mit Frau und Kindern, zog sich auf sein Ruderboot zurück oder ging auf Reisen. „Seltsam, im Nebel zu wandern!/Leben ist Einsamsein./Kein Mensch kennt den andern,/Jeder ist allein“, heißt es in einem seiner Gedichte aus jener Zeit. 1911, vier Wochen nach der Geburt des dritten Sohnes, brach Hesse zu einer Asienreise auf. Nach der Rückkehr war entschieden: „Gaienhofen hatte sich erschöpft.“ 1912, nur vier Jahre nach dem Einzug, wurde das Haus verkauft, „die Ewigkeit, für die wir gebaut hatten, dauerte nicht lange.“
Auch der Umzug nach Bern vermochte die Lebens- und Ehekrise nicht zu lindern. Das Paar trennte sich 1919. Mia, die als eine der ersten Profifotografinnen der Schweiz beruflich in der ländlichen Umgebung nie hatte Fuß fassen können, musste sich in einer Nervenheilanstalt behandeln lassen. Die Kinder kamen vorübergehend bei Pflegefamilien unter. Hesse verarbeitete das missglückte Eheleben in seinem Roman „Roßhalde“. „Es war von meiner früheren Existenz sehr wenig übrig geblieben. So machte ich einen Strich unter sie, packte meine Bücher, meine Kleider und meinen Schreibtisch ein und suchte einen Ort, wo ich allein und in vollkommener Stille von vorn beginnen könnte.“ 1919 zog er für immer ins schweizerische Montagnola. 1946 erhielt er den Literaturnobelpreis. Bis heute gehört Hesse weltweit zu den meistgelesenen Schriftstellern.
Im Rückblick auf das Haus in Gaienhofen erinnerte er sich viele Jahre später zwar noch genau an seinen Garten und sein Studierzimmer, aber die Vorstellung aller anderen Räume war „merkwürdig unscharf geworden.“ Klarer hätte Hesse die für seine freigeistige Künstlerexistenz lebenslang wichtigsten Bezugspunkte nicht formulieren können: Schreiben, Malen, Gärtnern.
Das Haus „im Erlenloh“ mit seinem prachtvollen Garten bewahrt sorgsam die Erinnerung an Hermann und Mia Hesse. Wieder einmal ist dies der Passion und Liebe Einzelner zu verdanken, die einen einzigartigen Ort vor dem Ausverkauf und dem Vergessen gerettet haben. Die Weltkulturgemeinschaft dankt es ihnen.