Hermann Hesse
Gaienhofen, Deutschland
Foto: Wikimedia commons/Nobel Foundation, 1946 (Ausschnitt)
02.07.1877
09.08.1962
Zum ersten Mal in seinem Leben wurde Hermann Hesse wirklich sesshaft. Nach dem Erfolg seines Romandebüts „Peter Camenzind“ und der Heirat mit der Schweizerin Maria Bernoulli, genannt Mia, schien der 27-Jährige bereit für eine bürgerliche Existenz: „Ich glaube schon, dass das Verheiratetsein seine Gräten haben wird, hoffe aber damit fertig zu werden.“
Gaienhofen auf der Halbinsel Höri bot den Jungvermählten den passenden Ort für ihren Nestbau. „Stille, Luft und Wasser gut, schönes Vieh, famoses Obst, brave Leute“, schrieb Hesse an Stefan Zweig. Von 1904 bis 1912 lebten die Hesses am Bodensee. Alle drei Söhne kamen dort zur Welt. „Im Schatten großer Bäume“ und im Geist der Lebensreformbewegung sollten sie aufwachsen.
Nach drei Jahren zur Miete wagte sich das Paar 1907 - unterstützt durch ein kräftiges zinsloses Darlehen des Baseler Schwiegervaters - an den Bau eines eigenen Hauses. Das Gebäude, von Hans Hindermann im Schweizer Landhausstil erbaut, lag etwas außerhalb des Dorfes, in freier Natur und mit weitem Blick auf See, Reichenau und die Schweizer Berge. Es sollte lebenslang das einzige eigene Domizil bleiben, das Hesse je besaß.
Das Haus mit seiner Fassade aus türkisblauen Holzschindeln und petrolgrünen Fensterläden galt im dörflichen Umfeld als modern: Es verfügte bereits über Wasserleitungen in Küche und Bad. Im Erdgeschoss spielte sich das alltägliche Leben ab, vor allem im holzgetäfelten Wohnzimmer mit Mias Klavier, der Eckbank und dem Esstisch. Nebenan hatte Mia ein kleines Zimmer mit zauberhaftem Rundfenster zur Seeseite hin. Das Kinderzimmer lag zwei Stufen erhöht, denn nach reformpädagogischer Vorstellung sollte die Raumhöhe so niedrig sein, dass die Kinder ohne Mühe aus dem Fenster schauen konnten. Die schmale Küche wiederum erhielt Schränke in kräftigem Blau - ein bewusster Kontrast zu den zarten Aquarelltönen der übrigen Räume.
Hesses Refugium befand sich im ersten Stock. Sein Studierzimmer, „zu dem von allen Seiten eine so weite, lichte, unverdorbene Landschaft hereinschaut“, ist bis heute mit dem grünen Kachelofen, den Bücherregalen und dem Schrank für seine Kunstmappen ausgestattet. Der Schreibtisch, den er sich in Gaienhofen nach eigenen Entwürfen hatte schreinern lassen, begleitete ihn ein Leben lang und steht heute im nahegelegenen Hesse-Museum.
Auch der Garten, der das Haus von allen Seiten umschließt, wurde von Hesse selbst im Geiste der Gartenreformbewegung geplant und angelegt. „Es ist ja etwas von Schöpferlust und Schöpferübermut beim Gartenbau“, schrieb er. „Man kann sich für den Sommer Lieblingsfrüchte, Lieblingsfarben, Lieblingsdüfte schaffen.“ Eine Allee aus Sonnenblumen führte zum Kiesplatz mit den Kastanienbäumen, die ihn an seine Kindheit im schwäbischen Calw erinnern sollten. Mangels geeigneter Steine befestigte Hesse den Weg mit alten Zeitschriften und ungelesenen Rezensionsexemplaren: „Dort unten liegt hübsch geschichtet die ganze deutsche Literatur von heute“, kommentierte er seine unkonventionelle Bauweise.
„Es könnte fast ein Idyll sein“, schrieb Hesse 1909, aber das Unbehagen wuchs. Sein Einzelgängertum, seine Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Ruhe wurden übermächtig: „Seit die Ofenbehaglichkeit anfing, befällt mich öfter ein Zorn über dies bequeme Hinleben.“ Immer häufiger entfloh Hesse der Häuslichkeit mit Frau und Kindern, zog sich auf sein Ruderboot zurück oder begab sich auf Reisen. „Seltsam, im Nebel zu wandern!/Leben ist Einsamsein./Kein Mensch kennt den andern,/Jeder ist allein“, heißt es in einem Gedicht jener Jahre. 1911, vier Wochen nach der Geburt des dritten Sohnes, brach Hesse zu einer Asienreise auf. Nach der Rückkehr stand fest: „Gaienhofen hatte sich erschöpft.“ 1912, nur vier Jahre nach dem Einzug, wurde das Haus verkauft. „Die Ewigkeit, für die wir gebaut hatten, dauerte nicht lange“, schrieb er rückblickend.
Auch der Umzug nach Bern vermochte die Lebens- und Ehekrise nicht zu lindern. Das Paar trennte sich 1919. Mia, eine der ersten Profifotografinnen der Schweiz, hatte beruflich in der ländlichen Umgebung nie wirklich Fuß fassen können und musste sich in einer Nervenheilanstalt behandeln lassen. Die Kinder kamen vorübergehend zu Pflegefamilien. Hesse verarbeitete das missglückte Eheleben in seinem Roman „Roßhalde“. „Es war von meiner früheren Existenz sehr wenig übrig geblieben. So machte ich einen Strich unter sie, packte meine Bücher, meine Kleider und meinen Schreibtisch ein und suchte einen Ort, wo ich allein und in vollkommener Stille von vorn beginnen könnte.“ 1919 zog er endgültig ins schweizerische Montagnola. 1946 erhielt er den Literaturnobelpreis. Bis heute gehört Hesse zu den weltweit meistgelesenen Autoren.
An das Haus in Gaienhofen erinnerte er sich später vor allem wegen seines Garten und des Studierzimmers, die übrigen Räume hingegen seien „merkwürdig unscharf geworden.“ Klarer hätte Hesse die für seine freigeistige Künstlerexistenz lebenslang wichtigsten Bezugspunkte nicht benennen können: Schreiben, Malen, Gärtnern.
Das Haus „im Erlenloh“ mit seinem prachtvollen Garten bewahrt die Erinnerung an Hermann und Mia Hesse bis heute. Wieder einmal ist es der Leidenschaft und Beharrlichkeit Einzelner zu verdanken, dass ein einzigartiger Ort vor dem Ausverkauf und dem Vergessen bewahrt wurde. Die Weltkulturgemeinschaft dankt es ihnen.