Théodore Reinach
Beaulieu-sur-Mer, Frankreich
Hier lebe ich in friedlicher Zurückgezogenheit in der unsterblichen Schönheit.03.07.1860
28.10.1928
Für alle, die wie Goethes Iphigenie das Land der Griechen mit der Seele suchen, ist die Villa Kérylos an der Côte d’Azur ein Muss. Bis heute ist sie einzigartig, die staunenswerte Rekonstruktion eines antiken Hauses, in dem eine Zeitlang auch stilgerecht nach Art der alten Griechen gelebt wurde. Bauherr der Villa Kérylos war Théodore Reinach, Nachkomme einer deutschstämmigen jüdischen Bankiersfamilie. Er wuchs zusammen mit seinen Brüdern Joseph und Salomon auf, alle drei hochbegabt und vielseitig gebildet, was ihnen schon in jungen Jahren, angelehnt an die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen, den Ruf „Je sais tout“ (Ich weiß alles) eintrug.
Théodore Reinach promovierte in Rechtswissenschaften und Geschichte und legte danach als Archäologe und Altertumswissenschaftler seinen beruflichen Schwerpunkt aufs Lehren, Forschen und Publizieren. Seine Arbeit über den pontischen König Mithridates VI. etwa gilt noch heute als Standardwerk. Der Wunsch, die griechische Antike in einem Haus wiedererstehen zu lassen, rührt daher wohl aus der jahrelangen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit. Freilich hatte er in Emmanuel Pontremoli einen archäologisch gebildeten Architekten, der anhand von Vorlagenbüchern, Nachschlagewerken und originalen Funden Reinachs Vorstellungen kongenial umzusetzen verstand. Zudem waren 1883 auf der griechischen Insel Delos Privathäuser aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. entdeckt worden, die wichtige Hinweise auf die damals nur lückenhaft bekannte Wohnkultur des Hellenismus gaben.
Auf einer schmalen Landzunge östlich von Nizza hatte Reinach den geeigneten Ort für sein Bauvorhaben gefunden. Die schroffen Bergrücken erinnerten ihn an die archaische Landschaft Griechenlands. Hier schuf Pontremoli zwischen 1902 und 1908 zusammen mit einer Handvoll herausragender Kunsthandwerker die Villa Kérylos, die Idealversion eines altgriechischen Privathauses. Der Name „Kérylos“ geht auf einen mythischen Wasservogel der griechischen Antike zurück. Mit ihrer schlichten weißen Außenfassade und den gestaffelten Baukörpern ist die Villa schon von weitem sichtbar. Die Innenräume überwältigen durch die Kostbarkeit ihrer Materialien und die handwerkliche Perfektion. Wandmalereien, Mosaikfußböden, Skulpturen, Textilien, Mobiliar – alles wurde exakt nach griechischen Vorbildern gestaltet. Freilich verfügte Reinach auch über die nötigen Mittel, um ein solch edles Ambiente souverän finanzieren zu können.
Am Eingang wird der Besucher mit dem griechischen Willkommensgruß XAIPE empfangen. Auf dem Bodenmosaik sind – ein sprechendes Symbol für die Familie – Hahn, Henne und Küken zu sehen. Der quadratische Innenhof mit umlaufender Säulenhalle (Perystil) ist wie bei den antiken Vorbildern das Herzstück des Hauses, um das herum sich die anderen Räume gruppieren. So zum Schutz vor Sonneneinstrahlung die nach Osten ausgerichtete Bibliothek, in der Théodore Reinach vom frühen Morgen bis zum Mittag seinen Forschungen nachging, selbstverständlich am Stehpult, denn auch die griechischen Gelehrten arbeiteten in stehender Position. Deren ruhmreiche Namen, programmatisch an den Wänden aufgereiht, umgaben Reinach ebenso wie der Wahlspruch „Hier lebe ich in friedlicher Zurückgezogenheit in der unsterblichen Schönheit“. Das Speisezimmer schließt sich an mit Liegen in Tischhöhe, denn die Griechen aßen in zurückgelehnter Haltung. Ein Altar im Salon, ähnlich dem in griechischen Häusern, ist „dem unbekannten Gott“ gewidmet. Im Obergeschoss lagen die Privaträume der Familie, getrennte Schlaf- und Badezimmer von Madame und Monsieur Reinach, verbunden durch einen gemeinsamen Ruheraum. Eine Etage darüber befanden sich die Kinder- und Gästezimmer. Die große Terrasse mit Pergola krönt den dreistöckigen Wohnturm.
Viele Jahre lang verbrachten die Reinachs die Ferienzeiten in der Villa Kérylos. Dabei waren nicht nur die Architektur und die Innenausstattung streng puristisch den Griechen der klassischen Antike nachempfunden, man versuchte darüber hinaus auch in ihre damalige Lebenswelt einzutauchen. Man kleidete sich wie sie, aß wie sie, sprach wie sie. Théodore Reinach unterhielt sich mit seinen Gästen nach Möglichkeit auf Altgriechisch oder Latein. Wie seine griechischen Vorbilder gestaltete er seinen Tagesablauf entsprechend den beiden in die Wand eingravierten Sonnenuhren: vormittags Studien, nachmittags Muße und Geselligkeit – die perfekte Work-Life-Balance avant la lettre.
Die Antike zu leben war Reinachs erklärter Wunsch, doch auf den modernen Komfort seiner eigenen Zeit wollte er dann doch nicht verzichten. Die Fenster waren ganz ungriechisch verglast, es gab im Haus fließendes Wasser, Elektrizität, Spiegel, Bücher, Bidets, eine Heizungsanlage, einen Speiseaufzug, ein Klavier. All das wurde vom Architekten aber so diskret integriert, dass der Zeitsprung in die Moderne nur für Eingeweihte erkennbar ist.
Die Villa Kérylos ist alles andere als eine Disneyland-Kulisse oder der Spleen eines reichen Erben. Théodore Reinach war ein passionierter Bewunderer der griechischen Kultur, deren Erforschung er einen Großteil seines Lebens widmete. Er war überzeugt, dass die Werte der klassischen Antike wegweisend und vorbildlich auch für seine eigene Zeit sein sollten. Wohl auch aus diesem Grund vermachte Reinach das Haus testamentarisch dem Institut de France. Seine Nachkommen konnten es noch bis in die 1960er Jahre bewohnen. Heute steht die Villa Kérylos der ganzen Welt offen. Sie ist eine faszinierende Einladung, das Land der Griechen mit der Seele zu suchen.