Eileen Gray
Roquebrune-Cap-Martin, Frankreich
Alles, was ich wollte, war Dinge entwerfen, die in unsere Zeit passen.09.08.1878
31.10.1976
„Alles, was ich wollte, war Dinge entwerfen, die in unsere Zeit passen.“ Mit ihren schönen zeitgemäßen Dingen hat Eileen Gray die Welt des Designs und der Architektur für immer bereichert. Ihr „Adjustable Table“ etwa hat sich zu einem der populärsten Designklassiker des 20. Jahrhunderts entwickelt. Und ihr Sommerhaus an der Côte d‘Azur, das seit 2021 wieder für Interessierte zugänglich ist, gehört zu den staunenswertesten Pionierbauten der Moderne. Aber nicht immer wurde mit ihren schönen Dingen respektvoll umgegangen und viele Jahre geriet deren Schöpferin fast ganz in Vergessenheit. Doch der Reihe nach.
Eileen Gray stammte aus einer wohlhabenden irischen Adelsfamilie. Früh ging sie ihren eigenen Weg, begann ein Kunststudium in London und Paris, entdeckte ihre Vorliebe für edle Lackarbeiten und gestaltete schon bald für eine wohlhabende Käuferschicht extravagantes Interieur im Art-déco-Stil. 1907 zog sie endgültig nach Paris und eröffnete dort 1922 unter dem männlichen Pseudonym Jean Désert ein Geschäft für Inneneinrichtung. In diesen Jahren veränderte sich ihr Geschmack immer stärker hin zur Formensprache des zeitgenössischen Funktionalismus. Vermutlich hat auch die Begegnung mit Jean Badovici, Architekt und Herausgeber der Architekturzeitschrift „L’architecture vivante“, ihren Stilwandel beeinflusst. Mit dem 15 Jahre jüngeren Rumänen verband Gray eine Arbeits- und Liebesbeziehung. Er bestärkte sie in ihrem Interesse für Architektur. „Ich habe die Architektur schon immer geliebt. Mehr als alles andere. Doch ich glaubte nicht, dass ich dazu fähig wäre“, gestand Eileen Gray später. Sie vertiefte sich autodidaktisch in Architekturstudien und reiste zusammen mit Badovici zu den europäischen Vorzeigebeispielen der vom Bauhaus und De Stijl beeinflussten Avantgardebauten.
Anschließend beschlossen die beiden, ein Ferienhaus am Meer zu bauen. 1926 kaufte Gray einen Bauplatz, uneinsehbar und ohne Straßenanschluss, an der Steilküste unterhalb des Städtchens Roquebrune mit Blick auf die Bucht von Monaco. Drei Jahre widmete sie sich akribisch der Planung und Verwirklichung ihres Sommerdomizils. Badovici spielte dabei eher eine Nebenrolle, finanziert wurde der Bau ohnehin weitgehend von Gray selbst. Ihrer beider Initialen gaben dem Haus den Namen: E steht für Eileen, 10 für Jean als 10. Buchstabe im Alphabet, 2 für Badovici, 7 für Gray. E.1027 ist ein Meisterwerk der Moderne. Eileen Gray nannte es „mein Boot“. Und tatsächlich, wie ein leuchtendes Schiff ragt das Haus aus den Felsen hervor. Das segeltuchbespannte Balkongeländer mit Rettungsring und der wie ein Schornstein anmutende Zugang zum Flachdach verstärken die intendierte Schiffsassoziation.
In E.1027 wurden Le Corbusiers Maximen modernen Bauens souverän umgesetzt: tragende Stelzen, Flachdach, Fensterbänder, freie Grundriss- und Fassadengestaltung. Dennoch kann keine Rede von dogmatischer Gefolgschaft sein. Das Haus trägt die ganz persönliche Handschrift seiner Architektin. Gray distanzierte sich vom strengen Funktionalismus, wie ihn Le Corbusier mit seiner „machine à habiter“ (Wohnmaschine) formuliert hatte. Ihr Anliegen war es vielmehr, eine wohltuende „Behausung für Menschen“ zu schaffen, denn „das Leben wird zu gleichen Teilen von Geist und Herz bestimmt.“
Dieses lässig-verspielte Wohngefühl setzt sich im Hausinnern fort. Alles ist bis ins kleinste Detail raffiniert durchdacht, ästhetisch und funktional zugleich. Feste Einbaumöbel verbinden sich harmonisch mit flexiblen Einrichtungselementen. Auch die Möbel hatte Gray selbst entworfen, manche eigens für dieses Haus. Nicht zufällig bezeichnete sie die Innenausstattung als „Campingstil“. Denn das effizient geplante Interieur, meist aus modernen Materialien wie Stahl, Glas und Eisen, ist je nach Bedarf variabel nutzbar. Entstanden ist ein klarer, minimalistischer Stil, voller Eleganz und Leichtigkeit. Mit den Inschriften an den Wänden, „Entrez lentement“ (Langsam eintreten) am Eingang, „Defense de rire“ (Lachen verboten) an der Garderobe oder „Au voyage“ (Auf Reisen) auf der Wandgrafik im Salon, zitierte Gray vermutlich die zeitgenössische Kunst des Dadaismus und Surrealismus.
Die Beziehung zu Badovici kriselte bald. 1932 verließ Gray Haus und Liebhaber. Sie zog sich, nur ihren „Adjustable Table“ im Gepäck, in das nicht weit entfernte Castellar bei Menton zurück, wo sie sich ein neues Feriendomizil schuf. „An Dinge heften sich Erinnerungen, so ist es besser, von vorne anzufangen.“
Badovici wohnte weiterhin in E.1027. Fatalerweise hatte Gray ihn beim Grundstückskauf als Eigentümer eintragen lassen. 1938 kam der mit ihm befreundete Stararchitekt Le Corbusier erstmals zu Besuch und war auch die darauffolgenden Jahre immer wieder Gast im Haus. Man weiß, dass er von Grays Architektur beeindruckt war. Doch umso befremdlicher ist der Vorschlag, den er Badovici unterbreitete: „Ich habe eine heftige Lust, die Wände zu beschmieren.“ Der Hausherr ließ ihn gewähren und Le Corbusier bemalte die bewusst monochrom gehaltenen Wände mit großformatigen bunten Fresken, meist nackte abstrakte Frauenfiguren in erotischen Posen. Eileen Gray hatte die „Architektur als eine Symphonie“ verstanden, „in der alle Formen des inneren Lebens Ausdruck finden.“ Nun störten schrille Misstöne die subtil durchdachte Komposition des Hauses.
Als Gray von der Malaktion erfuhr, verlangte sie die sofortige Entfernung der Wandbilder. Vergeblich. Nie wieder hat sie danach das Haus betreten. Über die Motive, die zu dieser beispiellosen Übergriffigkeit Le Corbusiers führten, wird noch immer gerätselt. War es Neid, Ignoranz, verletzte Eitelkeit? Als Frau war Gray in der damaligen von Männern dominierten Architekturszene eine Außenseiterin: finanziell unabhängig, unverheiratet, bisexuell, eigenwillig und in ihrer Gestaltungskraft allemal auf Augenhöhe mit den Kollegen.
Doch Le Corbusier hatte nicht nur Grays Baukonzept im Haus verändert, er veränderte auch dasjenige der Umgebung. 1952 errichtete er direkt oberhalb seine bekannte Holzhütte „Le Cabanon“, in der er viele Jahre lang den Sommer verbrachte. 1965 starb er unterhalb von E.1027 beim Schwimmen im Meer an Herzversagen. Auch seine Grabstätte liegt ganz in der Nähe. Eileen Gray und Le Corbusier - es ist bestürzend, wie E.1027 geradezu schicksalhaft ihrer beider Leben und Werk ineinander verwoben hat.
Nach dem Tod von Badovici 1956 überlebte das Haus die Besitzerwechsel mehr schlecht als recht. Le Corbusier muss man zugutehalten, dass er dafür sorgte, dass E.1027 und damit natürlich auch seine Wandmalereien in die verständigen Hände einer Schweizer Galeristin kam. Nach deren Tod verfiel es jedoch mehr und mehr. Eileen Gray lebte und arbeitete all die Jahre zurückgezogen in Paris, weitgehend vergessen von der Welt. Erst im Alter, sie wurde 98 Jahre, kam der Wandel. Und als 2009 ihr „Drachensessel“ aus dem Nachlass von Yves Saint Laurent für sagenhafte 21,9 Millionen Euro versteigert wurde und damit zum teuersten Stuhl des 20. Jahrhunderts aufrückte, war Eileen Gray – ihre Person, ihr Genie, ihre schönen Dinge – endgültig in aller Munde.