Heinrich Vogeler

Worpswede, Deutschland

Foto: Wikimedia commons/Unknown author, 1897 (Ausschnitt)

Meine ganze Seele wohnt hier.

12.12.1872

14.06.1942

www.worpswede-museen.de

„Eigentlich ist das ein Märchen“, schrieb Rainer Maria Rilke im Spätsommer 1900 über seinen Aufenthalt in Heinrich Vogelers Barkenhoff. „Ich sitze in einem ganz weißen, in Gärten verlorenen Giebelhaus unter schönen und würdigen Dingen, in Stuben, die voll von der Stimmung eines Schaffenden sind.“ Und ja, etwas von diesem märchenhaften Zauber ist auch heute noch spürbar, in der stillen Jahreszeit, wenn in Worpswede die Touristenströme verebben und sich der Raum um den Barkenhoff wieder für Träumereien öffnet. Wie sah dieses Leben aus, das Heinrich Vogeler mit seiner Frau Martha und den drei Töchtern dort führte?

1894 hatte sich Vogeler in dem Moordorf Worpswede in der Nähe von Bremen niedergelassen, angelockt von den Künstlerfreunden Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Hans am Ende und Fritz Overbeck, die dem starren Kunstakademiebetrieb bereits den Rücken gekehrt hatten und in der ländlichen Einfachheit neue künstlerische Inspiration suchten. Mit dem väterlichen Erbe baute Vogeler dann in den folgenden Jahren eine alte Bauernkate in ein schmuckes Wohn- und Atelierhaus um, dem er den Namen Barkenhoff (niederdeutsch Birkenhof) gab. An der Nordseite ließ er den Haussegensspruch von Rilke anbringen.

Jedes Detail unterlag dem konsequenten Schönheitswillen des Hausherrn. Tapeten, Vorhänge, Möbel, Geschirr, Besteck, ja sogar Kleider und Schmuck seiner Muse Martha wurden von ihm entworfen. Ähnlich wie in den Häusern von William Morris, Victor Horta oder Henry van de Velde waren alle Lebensbereiche durchkomponiert und in ein ästhetisches Gesamtkonzept eingebunden. Auch die äußere Erscheinung des Barkenhoffs mit der weißen Biedermeierfassade und der geschwungenen Freitreppe in den Garten zeigt Vogelers Handschrift. Er selbst inszenierte sich im Stil des Biedermeier mit Stehkragen, Gehrock und Zylinder.

In dieser von Schönheit erfüllten Idealwelt Vogelers ─ „meine ganze Seele wohnt hier“ ─ trafen sich die Künstlerfreunde zum Musizieren, Rezitieren und Feiern. Besucher wie Richard Dehmel, Thomas Mann, Gerhart Hauptmann und natürlich Rilke ergänzten die Runde. Leben und Kunst gingen für eine kurze Weile die ersehnte Symbiose ein, perfekt in Szene gesetzt vom Hausherrn selbst. Aber: „Ehe ein Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte, war ich verschwunden, grundlos böse mit mir selber. Warum konnte ich keine Feste feiern? Ich habe es nie verstanden, warum ich, der Glückspilz, dieser Mensch, dem alles gelang, was er anfasste, nun dasaß, fern vom Fest am einsamen Berghang, ein Häuflein Elend, den Kopf in den Händen“. Dabei war Heinrich Vogeler zu jener Zeit auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, als Architekt und Designer, vor allem aber als Maler und Buchillustrator, der den floral-ornamentalen Jugendstil bis in die Perfektion hineintrieb. „Ich war der Liebling des Bürgertums. Meine Kunst hatte ja nichts zu tun mit den unruhevollen Hässlichkeiten der Gegenwart.“

Bald jedoch zeigten sich erste Risse in der Barkenhoff-Idylle. Vogelers berühmtes Gemälde „Sommerabend“ von 1905, das heute in der Worpsweder Kunstschau zu sehen ist, macht sie subtil sichtbar. „Das Bild ist wie ein schmerzhafter Abschied und wie ein Rückblick auf Verlorenes“, resümierte Vogeler. Die Ehe mit Martha kriselte, Selbstzweifel und die quälende Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen machten die bisherigen Gewissheiten zunichte. Der Jugendstil war am Ende, augenfällig dokumentiert im Barkenhoff selbst, wo das um 1910 von Vogeler geschaffene Melusine-Triptychon bereits deutlich in Richtung Kitsch abrutscht.

Von außen sieht der Barkenhoff immer noch wie die von Vogeler beschworene „Insel der Schönheit“ aus. Im Innern, wo Vogelers Werke in modernen Ausstellungsräumen präsentiert werden, ist nur noch Weniges original erhalten. Wer einen Eindruck von der damaligen Wohnatmosphäre der Vogelers bekommen möchte, dem sei ein Besuch im "Haus im Schluh" empfohlen, das Martha mit ihren drei Töchtern nach dem Auszug aus dem Barkenhoff bezog. Heinrich überließ ihr großzügig das Mobiliar und seine Frühwerke mit ihren „giftigen, süßen, einschmeichelnden und aufreizenden Farben.“ Ihm selbst lag nichts mehr am Vergangenen. Er hatte sich 1914 als Freiwilliger in den Krieg gemeldet und war desillusioniert und radikal politisiert zurückgekehrt. Sein offener Friedensappell an Kaiser Wilhelm II. im Januar 1914 galt als lebensgefährliche Protestaktion, die eine kurzzeitige Einweisung in die Psychiatrie und polizeiliche Überwachung zur Folge hatte. Danach stürzte sich Vogeler für ein paar Jahre auf dem Barkenhoff in ein neues Experiment, eine autarke, nach urchristlichen und sozialistischen Werten lebende Landkommune, für Vogeler eine „Insel im kapitalistischen Staat“.

1923 übereignete er seinen Barkenhoff der Roten Hilfe, die dort in den folgenden Jahren ein Heim für Arbeiterkinder unterhielt. Er selbst reiste mit seiner zweiten Frau Sonja Marchlewska in die Sowjetunion, ihr Sohn Jan wurde geboren. 1931 emigrierte Vogeler endgültig und stellte sich als Künstler in den Dienst der neuen kommunistischen Gesellschaft. Seine Malstile wechselten, epigonal angepasst, vom Expressionismus zum Kubismus, Futurismus und schließlich zum sozialistischen Realismus. 1941, nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion, war ihm der Rückweg nach Deutschland endgültig versperrt. Er stand auf der Fahndungsliste der Nationalsozialisten, deshalb wurde er wie andere deutsche Emigranten in die Provinz evakuiert. Dort in Kasachstan starb er 1942 entkräftet, mittellos und allein. Seine Grabstelle ist bis heute unbekannt.

Heinrich Vogeler mit „seinen Traumaugen“, wie Paula Modersohn-Becker ihn einst beschrieb, blieb zeitlebens ein traumverlorener Idealist. Eines seiner späten Bilder, das ebenfalls im Barkenhoff zu sehen ist, zeigt einen mit einer schattenhaften Figur besetzten Pferdekarren, der ins Offene einer gelbleuchtenden Wüstenlandschaft hinausfährt. Vielleicht sah so die tröstliche Todesvision des ewigen Träumers Heinrich Vogeler aus.