Ernö Goldfinger
London, England
Alles, was ich tat, tat ich so, als ob es für mich getan worden wäre.11.11.1902
15.11.1987
Eigentlich war es ein ganz normaler Nachbarschaftsstreit, damals in der Londoner Willow Road. Der Störenfried, der die Anwohner so gegen sich aufbrachte, hieß Ernö Goldfinger. Der ungarisch-britische Architekt ließ in den 1930er Jahren dort ein paar alte viktorianische Backsteinhäuschen abreißen und an deren Stelle sein eigenes Wohngebäude errichten, einen modernen Flachbau aus Beton. Ein Skandal im vornehmen Stadtteil Hampstead. Unter den protestierenden Nachbarn war auch Ian Fleming, der Autor der legendären James-Bond-Romane. Doch nicht jeder Nachbar hat die Möglichkeit, seinen Unmut auf solch sublime Weise zum Ausdruck zu bringen, wie es ein Schriftsteller vermag. Ian Fleming gab nämlich im siebten Band der James-Bond-Reihe einem seiner bekanntesten Schurken den Namen Goldfinger.
Spätestens seit der Verfilmung im Jahr 1964 und dem gleichnamigen Titelsong von Shirley Bassey war der Name des maliziösen Goldschmugglers Goldfinger aller Welt bekannt. Ob es tatsächlich eine bewusste nachbarliche Revanche Flemings war oder ob ihm der so sprechende Name für den Widersacher von Agent 007 einfach nur gut gefiel, wissen wir nicht. Tatsache aber ist, dass Ernö Goldfinger wegen der literarischen Vereinnahmung seines Namens Anwälte einschaltete, sich letztlich dann aber auf einen außergerichtlichen Vergleich verständigte.
Wie sieht der Stein des Anstoßes in der Willow Road denn nun eigentlich aus? Es ist ein kubischer Baukörper mit langer Fensterfront und Flachdach. Der krude Beton wurde zur Befriedung der Nachbarn hinter einer Backsteinfassade versteckt. Zwischen den Betonsäulen führen drei farbige Haustüren zu drei Wohnungen. In der Mitte lebte seit 1939 der aus einer ungarisch-jüdischen Familie stammende Architekt Ernö Goldfinger mit seiner englischen Frau Ursula Blackwell und den drei Kindern. Das Reihenhaus repräsentiert seine architektonischen Ideale, die geprägt sind von Auguste Perret, Adolf Loos und Le Corbusier, allesamt Architekten der Moderne, die Goldfinger in den 1920er Jahren in Paris kennengelernt hatte.
Im Inneren dominiert die freie Raumgestaltung, die es den Bewohnern ermöglicht, mittels verschiebbarer Wände und einklappbarer Türen die Räume je nach ihrer Funktion flexibel zu gestalten. Die großen Fensterfronten erweitern die Räume nach außen zu den Balkonen und schaffen eine Open-Air-Atmosphäre ganz nach Goldfingers Geschmack. Zusätzliches Tageslicht fließt über die Oberlichter im dritten Stock herein. Auch die Farbe ist ein wichtiges Gestaltungselement. Man trifft auf knallrot lackierte Türen und verschiedene Wandfarben, die an die kubistischen Maler Braque und Gris erinnern. Eine steile Wendeltreppe des Ingenieurs Ove Arup verbindet die Geschosse. Ernö Goldfinger war zudem auch Möbeldesigner, die Einbauschränke und ein Großteil des Inventars hat er selbst entworfen.
Im elterlichen Schlafzimmer steht ein niedriges Bett, denn die Goldfingers waren der Ansicht, dass höhere Zivilisationen wie zum Beispiel die Japaner nahe am Boden schliefen. Warme Holztöne und hochkarätige Kunstwerke befreundeter Künstler wie Max Ernst, Henry Moore, Marcel Duchamp oder Man Ray verleihen diesem Zuhause eine moderne, wohnliche Atmosphäre.
Goldfingers Baustil hat Ähnlichkeit mit Le Corbusiers Pariser Wohnung, die nur wenige Jahre zuvor fertiggestellt worden war. Beide Architekten bauten sich für ihre persönlichen Bedürfnisse nicht etwa repräsentative freistehende Villen, wie man es in ihrer privilegierten Position hätte erwarten können, sie entschieden sich vielmehr bewusst für ein Leben innerhalb eines größeren Wohnkomplexes. Beide experimentierten mit Formen des sozialen Wohnungsbaus. So baute Goldfinger 1967 das Londoner Hochhaus Balfron Tower im Stil des sogenannten Brutalismus, der bewusst Rohheit, Klarheit und Funktionalität betonte und damit auf viele Zeitgenossen provozierend wirkte. „Nur die Eskimos und Zulus bauen etwas anderes als rechteckige Häuser“, antwortete Goldfinger seinen Kritikern.
Zusammen mit seiner Frau zog er für zwei Monate von der Willow Road in den obersten Stock des Hochhauses, um das dortige Wohngefühl zu erkunden und mit den Bewohnern ins Gespräch zu kommen. „Alles, was ich tat, tat ich so, als ob es für mich getan worden wäre“, war sein Verständnis von humaner Architektur. Diese Erfahrungen bestimmten auch seinen zweiten Londoner Hochhausbau, den 31-stöckigen Trellick Tower mit einer Fassade aus Stahlbeton und separatem Turm für die Aufzugsanlage und Abfallentsorgung. Im Trellick Tower hatte Ernö Goldfinger dann jahrelang sein Architekturbüro. Das Haus in der Willow Road aber blieb bis zu seinem Tod 1987 sein Wohnsitz. Noch heute wirkt es im Umfeld der viktorianischen Bebauung ein bisschen widerständig. Aber Baustile spiegeln nun mal ihre Zeit und verweisen darauf, dass die Geschichte der Architektur weitergeht, ganz egal, ob es den Nachbarn gefällt oder nicht.