Georgia O’Keeffe
Abiquiú, USA
Ich habe das Gefühl, dass ich hier wachse, mich entfalte, meine innere Linie finde – und sehr ruhig werde.15.11.1887
06.03.1986
Alles ist Magie. Die Felsen, das Licht, der Himmel, das Haus. Es ist die Landschaft New Mexicos, es ist das Haus von Georgia O’Keeffe. 1943 hatte die Malerin das baufällige Anwesen in Abiquiú erworben, ein traditionelles Lehmziegelgebäude, umschlossen von einer Mauer und gruppiert um einen Innenhof, in dem O’Keeffe auf den ersten Blick von einer schwarzen Tür angezogen wurde: „Diese Wand mit einer Tür darin war etwas, das ich haben musste.“ Später malte sie diese Tür geradezu obsessiv wieder und wieder.
Sie ließ das Haus nach ihren Vorstellungen umgestalten. Große Fensterflächen sollten den Blick in die Umgebung öffnen, die Natur wurde gleichsam in das Wohnen hineingenommen. Ihr Atelier nahm den größten Raum ein, daneben lag ihr Schlafzimmer – beide abgetrennt vom restlichen Wohnbereich. Das gesamte Interieur mit den weiß verputzten Wänden und den modernen Möbeln von Charles und Ray Eames, Harry Bertoia, Eero Saarinen wirkt klar und minimalistisch. An der Decke ließ O‘Keeffe ein Mobile von Alexander Calder anbringen und im Esszimmer die einzige Lampe vom befreundeten Isamu Noguchi. Ansonsten bevorzugte sie nackte Glühbirnen. An den Wänden wollte sie auf ihre eigenen Werke blicken und sich mit sorgfältig arrangierten Fundstücken aus der Wüstenlandschaft – ausgebleichte Tierknochen, Geweihe, Holzstücke, Steine – umgeben. „Ich nutze diese Dinge um darzustellen, was mir die Weite und die Wunder der Welt, in der ich lebe und wie ich sie erlebe, bedeuten.“
In ihrem Zuhause spiegelt sich ihr ganz eigener ästhetischer Sinn. „Mein Haus in Abiquiú ist ziemlich leer. Es ist darin nur, was ich brauche.“ Und dieser lakonische Stil setzt sich auch in ihrer Kunst fort. Ausgehend von dem, was sie unmittelbar umgab, bewegt sich ihre Formsprache zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. „Meine Gemälde wachsen manchmal Stück für Stück aus dem, was um mich ist.“ Dabei war der Auslöser für ihre Hinwendung zur kargen Landschaft New Mexicos eine persönliche und künstlerische Krise gewesen.
Aufgewachsen auf einer Milchfarm in Wisconsin verdiente die junge O‘Keeffe nach einem Kunststudium in Chicago und New York ihren Lebensunterhalt als Gebrauchsgrafikerin und Kunstlehrerin. Ohne ihr Wissen zeigte eine Freundin 1916 einige ihrer abstrakten Kohlezeichnungen dem bekannten Fotografen und Kunsthändler Alfred Stieglitz, der in seiner New Yorker Galerie „291“ als erster in den USA der europäischen Moderne um Cézanne, Rodin, Matisse und Picasso den Weg geebnet hatte. Stieglitz erkannte die künstlerische Kraft O‘Keeffes und stellte in seiner Galerie ungefragt ihre Bilder aus. Georgia war verärgert, dennoch war es der Beginn einer großen, lebenslangen Liebe und Zusammenarbeit. Der 23 Jahre ältere Stieglitz wurde ihr Förderer, ihr Geschäftspartner, ihr Geliebter und nach seiner Scheidung 1924 auch ihr Ehemann.
Das Paar zog in ein New Yorker Hochhaus. Dort entstanden die nächtlichen Wolkenkratzer-Bilder, gemalt von Georgia O‘Keeffe, fotografiert von Alfred Stieglitz. Letztlich waren es aber die plakativen, durch die extreme Nahsicht auf Blüten irritierend wirkenden Gemälde, die O‘Keeffe berühmt gemacht haben, kongenial ergänzt durch die Akt- und Porträtfotografien, die der faszinierte Stieglitz von ihr anfertigte und die das Bild von ihr bis heute prägen.
Dann der Schock, die Demütigung, als sie Stieglitz mit seiner 22-jährigen Mitarbeiterin Dorothy Norman bei Aktaufnahmen entdeckte. „Leider muss ich sagen, dass er verrückt war nach ihr“. Sie litt, sie ging auf Abstand – dennoch schrieben sie und Stieglitz sich lebenslang fast täglich Briefe. 1929 reiste sie nach New Mexico und ließ Stieglitz wissen: „Ich habe mich entschlossen fortzugehen, da ich mich hier nun wohlfühle – und ich habe das Gefühl, dass ich hier wachse, mich entfalte, meine innere Linie finde – und sehr ruhig werde.“ Noch kämpfte sie mit depressiven Phasen, dem Schmerz über die von Stieglitz verweigerte Mutterschaft, verstummte in ihrem Kunstschaffen. Aber New Mexico wurde in den folgenden Jahrzehnten ihre seelische und künstlerische Heimat, die sie in ausgedehnten Wanderungen und Autofahrten erkundete. „Das war mein Land – auf den ersten Blick. In der Luft liegt etwas, das anders ist. Der Himmel ist anders, die Sterne, der Wind.“ Die Wüstenformationen, ihr indigen geprägtes Haus und die Fundstücke ihrer Exkursionen wurden zur Inspirationsquelle für ihre Bilder. Es sind Bilder ohne Menschen, ohne Tiere. Eine Welt der Stille, der Verlassenheit, der Reduktion. Ihre Kunst lässt sich kunstgeschichtlich nicht eindeutig zuordnen. Sie ist eigenwillig, unabhängig, solitär.
Jahrelang pendelte Georgia O‘Keeffe zwischen der Abgeschiedenheit New Mexicos und dem Großstadttreiben New Yorks. 1940 erwarb sie die „Ghost Ranch“ und einige Jahre später das etwa 20 km entfernt liegende Haus in Abiquiú, die sie beide abwechselnd bewohnte. Als Stieglitz 1946 im Sterben lag, reiste sie zu ihm. Nach seinem Tod entließ sie zuerst Dorothy Norman und kümmerte sich dann drei Jahre lang um seinen Nachlass. Danach, mit 62 Jahren, zog sie endgültig nach New Mexico.
„Wenn ich an den Tod denke“, schrieb O‘Keeffe, die im Alter allmählich erblindete, „bedauere ich nur, dass ich diese schöne Landschaft nicht mehr werde betrachten können – es sei denn, die Indianer haben recht, und mein Geist wird dann noch hier umhergehen.“ Nach all der Zeit, O‘Keeffe wurde 98 Jahre alt, scheint es, als ob ihr Körper und ihr schön gealtertes Gesicht sich immer mehr mit dieser Landschaft vermählten, dieser Landschaft, in der ihrem Wunsch gemäß ihre Asche ohne Zeremonie verstreut wurde.