August Hermann Francke

Halle an der Saale, Deutschland

Foto: Wikimedia commons (Ausschnitt)

Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.

22.03.1663

08.06.1727

www.francke-halle.de

Für ihn war es ein frommer Dienst, eine Mission. Als August Hermann Francke, Pfarrer der kleinen Amtsstadt Glaucha vor den Toren Halles, an Ostern 1695 vier Taler und sechzehn Groschen in seiner Spendenbüchse fand, sagte er sich: „Das ist ein ehrlich Kapital, davon muss man etwas Rechtes stiften: ich will eine Armenschule anfangen.“ Denn längst hatte ihn sein Amt als Seelsorger gelehrt, dass Almosen allein nichts gegen das herrschende soziale Elend ausrichten konnten. Nur der Weg über Bildung und Eigenverantwortung war seiner Ansicht nach geeignet, die Menschen aus ihrer Not herauszuführen.

„Mit Glaubensfreudigkeit“ begann er sogleich sein ehrgeiziges Bildungsprojekt in die Tat umzusetzen.  Zunächst wurden die mittellosen Kinder seiner Gemeinde im Pfarrhaus unterrichtet, Buben wie Mädchen übrigens, auch das war Francke von Anfang an wichtig. Bereits 1698 konnte er den Grundstein für ein imposantes Waisenhaus legen, das noch heute als Herzstück der Franckeschen Stiftungen gilt. Dann folgte ein Bau nach dem anderen: Elementar- wie weiterführende Schulen, Internate, Werkstätten, Lehrgärten und Wirtschaftsgebäude, eine Buchdruckerei, eine Buchhandlung, eine Apotheke und ein Kinderkrankenhaus. Innerhalb von dreißig Jahren war so eine veritable Schulstadt entstanden, ein barockes Gebäudeensemble mit zahlreichen Stein- und Fachwerkbauten, darunter das größte Fachwerkwohnhaus Europas. Zwar erleichterten die von der Obrigkeit eingeräumten Privilegien die Aufbauarbeit, aber Francke war darüber hinaus auch auf Spenden und Schulgeld von Adel und Bürgertum angewiesen, deren Kinder ebenfalls in den Ausbildungsstätten Aufnahme fanden. Hinzu kamen Einkünfte aus dem Verkauf von Büchern und Medikamenten, die in der Apotheke eigens erforscht und hergestellt wurden.  

August Hermann Francke war nicht nur Pädagoge, Pfarrer und Gelehrter. Er war darüber hinaus auch ein umtriebiger Manager und Networker. Er verstand es im frühkapitalistischen Sinne zu wirtschaften und zu agieren, immer aber auf der Grundlage seiner pietistischen Glaubensgesinnung und des am Tympanon des Waisenhauses prangenden Wahlspruchs: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.“

Francke gehörte in Halle zur pietistischen Reformbewegung, die sich in der Nachfolge Martin Luthers sah und für eine Erneuerung und Weiterentwicklung reformatorischer Ideen eintrat. Wie bei Luther stand das Bibelwort im Zentrum christlicher Glaubenspraxis. Weil jeder Mensch sein Leben an der Heiligen Schrift ausrichten sollte, erhielt die Schreib- und Lesekompetenz eine fundamentale Bedeutung. Ganz im Sinne der Frühaufklärung rückte damit der einzelne Mensch unabhängig von seinem sozialen Stand in den Fokus. Um individuelle Freiheitsrechte ging es Francke dabei allerdings nicht. Ihm ging es um individuelle Glaubenserfahrungen. Seine Pädagogik zielte auf die disziplinierte, fromme Lebensführung der Zöglinge: „Ständige Aufsicht: Einprägung von Merksätzen, Kontrolle durch Katechese, Beichtstuhl, Nachfrage bei den Eltern, Selbstprüfung in Tagebüchern und Aufsätzen, unablässiges Gebet in der Gemeinschaft.“ Kaum erwähnt werden muss daher, dass in seinem pietistischen Erziehungsplan Phantasie und zweckfreies Vergnügen keinen Platz fanden: „wenn man Spielen oder kurzweilige Actiones, Tanzen, Springen usw. anfänget, so bedenke man zuvor, weil bei diesen Dingen viel unanständiges und wüstes Wesen vorgehet, gemeiniglich auch unzüchtige Gebärden und Reden nicht ausbleiben, darauf andere größere Sünden folgen.“

Franckes Wohnhaus, ein ehemaliges Gasthaus, in dem er von 1702 bis 1715 mit seiner Familie lebte und von wo aus er unermüdlich den Aufbau seiner Stiftung betrieb, ist heute ein moderner Ausstellungsbau, der kaum noch authentische Spuren des Stiftungsgründers aufweist. Umso mehr lassen sie sich in der Anlage der Schulstadt selbst und vor allem im nebenan liegenden Waisenhaus entdecken, wo man angesichts der Schätze nicht aus dem Staunen herauskommt. Franckes soziale und pädagogische Haltung zeigt sich eindrucksvoll in der Kunst- und Naturalienkammer, eine originalgetreu restaurierte Wunderkammer, zu der Francke den Grundstein gelegt hatte. In reichverzierten Glasschränken ist hier das barocke Weltwissen, Schöpfungen der Natur und Schöpfungen des Menschen, versammelt: etwa Mineralien, Pflanzen, Reptilien, Insekten, Tier- und Menschenembryos, Totenmasken, fremdländische Kleidungsstücke, Waffen und Haushaltsgeräte sowie ein mannshohes Planetenmodell in der Raummitte. Alle rund 3000 Exponate, geordnet nach der Systematik Carl von Linnés, dienten als Anschauungsmaterial für den Schulunterricht.

Neben dem Lernen an Realien erhielt das sprachliche Lernen eine zentrale Bedeutung, repräsentiert in der barocken Bibliothek mit ihren bibliophilen Kostbarkeiten. Die Bücher sind nach Größe geordnet. Die Regale sind wie Kulissen in den Raum hineingeschoben und nicht wie damals üblich an den Wänden entlang angeordnet. Es ist die erste Kulissenbibliothek der Bibliotheksgeschichte und zugleich der älteste erhaltene profane Bibliotheksbau in Deutschland. Über eine Holzstiege gelangt man schließlich zum Dachbalkon, der den Zöglingen für Himmelsbeobachtungen zur Verfügung stand.

Als Francke 1727 starb, hinterließ er ein beeindruckendes Lebenswerk. Rund 3000 Menschen, darunter mehr als 2000 Kinder lebten und arbeiteten seinerzeit in der florierenden Schulstadt. Die „Anlegung eines Pflanzgartens, in welchem man eine reale Verbesserung in allen Ständen in und außerhalb Deutschlands, ja in Europa und allen übrigen Teilen der Welt“ erreichen wollte, ist Francke mit seiner Stiftung in bewundernswerter Weise gelungen. Seine Reformideen fanden Nachahmer weit über die Grenzen Europas hinaus. Aus seiner Druckerei wurden Millionen von preiswerten Bibeln in die Welt geschickt, und maßgeblich von seinen ehemaligen Zöglingen und Lehrern ging die erste protestantische Missionstätigkeit aus, die Halle zum Mittelpunkt eines weltumspannenden Kommunikationsnetzes machte. August Hermann Francke sah seine fromme Mission erfüllt, eine Mission, die mit vier Talern und sechzehn Groschen einstmals ihren Anfang genommen hatte.