Ernst Jünger

Wilflingen, Deutschland

Foto: Wikimedia commons (Ausschnitt)

Wie Bauern ihren Acker pflügen, habe ich das Bedürfnis, Situationen, die ich sehe und erlebe, festzuhalten.

29.03.1895

17.02.1998

www.juenger-haus.de

Der Ginkgobaum und die Janusfigur in seinem Garten – ein Schlüssel zu Ernst Jüngers Selbst- und Weltverständnis? Beide, der doppelblättrige Ginkgo und der doppelköpfige Gott Janus, gelten als Symbole für die Zweiheit in der Einheit. So könnte man sich also einem Jahrhundertschriftsteller nähern, der wie kaum ein anderer die intellektuelle Welt polarisiert und zu ganz unterschiedlichen Wertungen herausgefordert hat. Die jüdische Philosophin Hannah Arendt etwa urteilte über ihn: „Trotz des unleugbaren Einflusses von Jüngers frühen Schriften auf gewisse Mitglieder der Nazi-Intelligenz war er vom ersten bis zum letzten Tag des Regimes ein aktiver Nazigegner.“ Demgegenüber stehen Attacken wie beispielsweise die von Thomas Mann, der Jünger bescheinigte, er sei „ein Wegbereiter und eiskalter Genüssling des Barbarismus“ gewesen, der leider „ein viel zu gutes Deutsch schrieb für Hitler-Deutschland“. Jünger selbst jedoch berief sich auf seine innere Unabhängigkeit: „Ich widerspreche mir nicht – das ist ein zeitliches Vorurteil. Ich bewege mich durch die verschiedenen Schichten der Wahrheit, von denen die jeweils höchste sich die anderen unterstellt.“

Im Nachkriegsdeutschland wurde Ernst Jünger zumeist auf sein umstrittenes Frühwerk aus den 1920er Jahren reduziert und daran gemessen. Vor allem mit seinem Erlebnisbericht „In Stahlgewittern“, in dem er mit kühler Beobachtungsschärfe das Grauen des Ersten Weltkriegs protokollierte und den Krieg als „inneres Erlebnis“ feierte, geriet Jünger ins Kreuzfeuer der Kritik. Seine nationalistisch argumentierende Publizistik, die sich gegen das parlamentarische System der Weimarer Republik richtete, war weiteres Wasser auf die Mühlen seiner Kritiker. Auch sein 1939 erschienener Roman „Auf den Marmorklippen“, der eine nihilistische Gewaltherrschaft beschreibt, konnte die Vorbehalte ihm gegenüber nicht ausräumen, obwohl Jünger sich von Anfang an, wohl mehr aus einem elitären Habitus heraus, von der völkisch-rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten distanziert hatte. „Ich habe schon das Wort ‚deutsch‘ aus allen meinen Büchern gestrichen, damit ich es nicht mit ihnen teilen muss“, heißt es in einem Brief von 1940.

Die Entscheidung, 1951 in das ehemalige Forsthaus der von Stauffenbergs, Verwandten des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg, zu ziehen, war auch eine Entscheidung gegen die Nähe zum aktuellen Kulturbetrieb. „Ich wohne gern auf dem Lande“, bekannte Jünger. Hier in dem kleinen oberschwäbischen Flecken Wilflingen am Rande der Schwäbischen Alb sollte er fast ein halbes Jahrhundert leben. Freilich blieb er durch seine ausgedehnten Reisen, seine umfangreiche Korrespondenz und viele prominente Gäste wie Theodor Heuss, Helmut Kohl, François Mitterand, Felipe Gonzáles, Jorge Louis Borges oder Alfred Andersch immer eng mit der Welt verbunden.

Das Gebäude mit seinen elf Zimmern, das seine zweite Frau Liselotte nach Jüngers Tod unberührt der Nachwelt hinterlassen hat, atmet aus allen Poren die stilisierte Lebenswelt Jüngers, ganz in seinem Sinne: „Eine Wohnung mit alten Möbeln, Büchern und Bildern hat neben ihrem Kunstwert eine Aura, die auch bei geschlossenen Augen zu spüren ist, ja gerade dann. Die Aura haftet besonders an organischen Stoffen: Holz, Leder, Pergament, Wachs, Wolle, Leinen, Seide; sie schaffen die Stimmung, zu der Stein und Metall nur den Akzent setzen.“

Das Haus birst geradezu vor der Fülle gesammelter Objekte. Sammeln war für Jünger „eines der großen Abenteuer des homo ludens“, wohl wissend, dass alles Gesammelte vergänglich sei und nur „bunter Staub“ zurückbleiben werde. Jünger sammelte Käfer, Bücher, Sanduhren, Spazierstöcke, Muscheln, Fossilien, Pflanzen, ausgestopfte Reptilien, Bilder verstorbener Freunde und besuchter Orte, dann so bizarre Dinge wie Bücher über Schiffsuntergänge, letzte Worte Sterbender oder die beiden durchschossenen Stahlhelme, sein eigener und den eines von ihm getöteten englischen Offiziers. Und Jünger sammelte Erfahrungen, die vor allem in seinen Tagebüchern ihren Niederschlag fanden. „Wie Bauern ihren Acker pflügen, habe ich das Bedürfnis, Situationen, die ich sehe und erlebe, festzuhalten.“ Sein Erfahrungsfuror schloss auch Grenzerfahrungen mit Drogen nicht aus. Nach seinen Drogenexperimenten zusammen mit dem LSD-Entdecker Albert Hofmann hatte er bald darauf die Staatsanwaltschaft am Hals.

Überall umgibt einen im Haus, wie in Goethes Weimarer Domizil am Frauenplan, das gesammelte Leben des ehemaligen Hausherrn. Es ist, als ob Ernst Jünger die Vielfalt der Welt in seinen vier Wänden nicht nur erforschen und ordnen, sondern auch bannen wollte. „Wir bilden uns die Welt, und was wir erleben, ist nicht dem Zufall untertan. Die Dinge werden durch unseren Zustand angezogen und ausgewählt: die Welt ist so, wie wir beschaffen sind.“ Mehr als 30.000 Exemplare umfasst seine legendäre Käfersammlung, die penibel kategorisiert in Spezialschränken lagert. Die Leidenschaft des Käfersammelns, der er auf seinen weltweiten Exkursionen nachging – „ein Paradies ohne Käfer kann ich mir schwer vorstellen“ – wurde schon früh vom Vater mit dem Bestimmungsbuch „Der Käferfreund“ geweckt. Heute gibt es einen Ernst-Jünger-Preis für Entomologie und auch einige Insektenarten sind nach Jünger benannt.

Das Leben in Wilflingen war einem diszipliniert geregelten Tagesablauf unterworfen. Der Morgen begann mit einem eiskalten Wannenbad und Seilspringen. Im Zentrum stand Jüngers geistige Tätigkeit, die nachmittags durch lange Spaziergänge und Gartenarbeit unterbrochen wurde. Fast zu viel Intimität umfängt einen im Ankleidezimmer mit dem Anti-Aging-Arzneischächtelchen „Immer jünger“, im soldatisch karg eingerichteten Schlafzimmer und im Badezimmer mit den irritierend unsoldatischen rosafarbenen Duschvorhängen und Handtüchern.

Uralt wie ein Ginkgobaum ist Ernst Jünger geworden. Er starb mit fast 103 Jahren und ist auf dem Dorffriedhof in Wilflingen neben seiner ersten Frau Gretha und seinen beiden Söhnen begraben. Janusköpfig wie er selbst bleibt sein schriftstellerisches Werk und seine Wirkung auf die Nachwelt.