Alberto Giacometti
Stampa, Schweiz
Je mehr man scheitert, desto weiter kommt man voran.10.10.1901
11.01.1966
Überlange, spindeldürre Figuren – die Männer weit ausschreitend, die Frauen statuenhaft erstarrt. So kennt man Alberto Giacometti. Dass es einen Zusammenhang zwischen seinen schrundigen Bronzefiguren und der schrundigen Bergwelt seiner Schweizer Heimat geben könnte, wurde schon oft gemutmaßt. Gehen wir also zurück zu seinen Wurzeln und nähern uns Giacometti über sein Heimatdorf Stampa im Kanton Graubünden. Dort in diesem kargen Bergeller Hochgebirgstal liegt sein ehemaliges Atelier.
Auch als er längst in Paris lebte, kehrte Giacometti immer wieder für mehrere Wochen im Jahr ins Bergell zurück, zum Grau der Granitfelsen und Steinhäuser und zum vertrauten Menschenschlag. Giacometti stammte aus einer Familie, die seinen Weg als Künstler von Anfang an förderte und begleitete. Der Vater Giovanni, ein spätimpressionistischer Maler, befreundet mit Hodler und Segantini, war sein erster Lehrmeister. 1903 zog die Familie von Borgonovo ins Haus Piz Duan im nahen Stampa, drei Jahre später wechselte sie in das Haus gegenüber. Der Vater richtete sich im angrenzenden Stall sein Atelier ein. „Es gab für mich kein größeres Vergnügen, als nach der Schule ins Atelier zu laufen und mich in meine Ecke beim Fenster zu setzen, um Bücher anzuschauen und zu zeichnen. Ich glaube, es gibt Dinge, die damals und bis heute auf mich eingewirkt haben“, bekannte Giacometti. Heute erinnern im Atelier noch die Druckerpresse und das pointillistische Wandbild an den Vater. 1933, nach dessen Tod, übernahm Alberto das Atelier. Auch wenn der Raum zu seinen Lebzeiten wesentlich mehr mit Malutensilien und Kunstobjekten zugestellt war, sind Albertos Spuren gut erkennbar. Sein geschnitztes Bett etwa, die Staffelei und sogar die Brandflecken auf dem Holzboden, die von den ausglühenden Zigarettenstummeln des Kettenrauchers herrühren.
Seine Familie – Vater, Mutter und die drei Geschwister – sind motivisch in Giacomettis Schaffen überaus präsent. Es gibt zahlreiche Porträts vor allem von seiner Mutter Annetta und seinem Bruder Diego, der ihm nach Paris folgte und sein engster Mitarbeiter wurde. Aber auch seine Ehefrau Annette und seine spätere Geliebte Caroline saßen ihm Modell. „Was mich am meisten am Kopf interessiert, sind die Augen. Wenn ich die Augen erfasst habe, die Nasenwurzel, den Abstand zwischen den Augen, den Blickwinkel, dann kann die Arbeit losgehen. Alles andere entsteht nur aus diesen Augen.“
Mit seinen charakteristischen Figuren und Büsten hat Alberto Giacometti erst in der Nachkriegszeit seinen ganz eigenen Stil gefunden. Zuvor, in den 1930er Jahren, hatte er sich nach dem Kunststudium in Genf und Paris im Kreis der Surrealisten um André Breton bewegt. Er schuf abstrakte Skulpturen, er war bekannt mit Picasso, Miró, Cocteau, Max Ernst. Ab 1935 kehrte er zurück zur figurativen Gestaltung am menschlichen Modell, in den Augen Bretons ein Verrat am Surrealismus. Doch mit seinen hageren, zerklüfteten Bronzefiguren gelang ihm schließlich der Durchbruch auf dem Kunstmarkt. Giacometti wurde reich und berühmt, lebte aber weiterhin in seinem einfachen Atelierschuppen im Montparnasse-Viertel. Daran änderte auch die Heirat mit Annette 1949 nichts. „Er könnte ein Schloss haben oder im besten Hotel von Paris wohnen“, bescheinigte ihm der Kunsthändler Aimé Maeght. „Aber er lebt in Paris noch immer wie ein Clochard in zwei Zimmern.“
Vertraute Menschen und Dinge seiner Umgebung waren die Objekte seines Kunstschaffens. Wie Cézanne umkreiste er sie beharrlich forschend im Bemühen, zum „Kern des Lebens“ vorzudringen. „Man kann ein Gesicht, einen Tisch, einen Stuhl, ja eine Tasse jeden Tag neu entdecken, schöner und wirklicher als zuvor.“ Dennoch blieb er der große Zweifler. Alle seine Werke betrachtete er als vergebliche Annäherungen. „Ich sehe meine Figuren vor mir. Jede, auch die scheinbar vollendete, ein Fragment, ein Versagen. Aber in jeder ist etwas von dem vorhanden, was ich eines Tages schaffen möchte.“ Viele seiner Werke überarbeitete er immer wieder, viele zerstörte er. Manchmal nahm Diego sie an sich und rettete sie damit für die Nachwelt. „Ob man nun weiterkommt oder ob man scheitert, das ist genau dasselbe“, so Giacometti. „Man kann nur weiterkommen, indem man scheitert. Je mehr man scheitert, desto weiter kommt man voran.“
Giacometti war ein leidenschaftlich Suchender. „Ich male und knete weiter, denn ich muss wissen, warum ich versage.“ Er arbeitete vorwiegend nachts, rauchte viel, aß wenig, schadete seiner Gesundheit. Todkrank zog es ihn zurück in die Heimat. Im Churer Kantonsspital starb er mit 65 Jahren nach einer chronischen Bronchitis an Herzversagen. In seinem Atelier in Stampa wurde er aufgebahrt. Ein langer Trauerzug begleitete das Pferdefuhrwerk mit dem Sarg zum verschneiten Friedhof San Giorgio in Borgonovo.
Wer Alberto Giacometti verstehen will, sollte ins Bergell reisen, zu seinem Atelier, zu seinen Bergen, zu seinem Grab.