Gabriele Münter
Murnau, Deutschland

Foto: Wikimedia commons/Wassily Kandinsky (Ausschnitt)
19.02.1877
19.05.1962
Die Geschichte der Gabriele Münter ist die Geschichte weiblicher Selbstbehauptung. Erst spät sollte es dieser Künstlerin gelingen, aus dem übermächtigen Schatten Wassily Kandinskys, ihres Lehrers, Geliebten und Kollegen, herauszutreten und für sich selbst einzustehen. „Ich war in vieler Augen doch nur eine unnötige Beigabe zu Kandinsky. Dass eine Frau ein ursprüngliches, echtes Talent haben und ein schöpferischer Mensch sein kann, das wird gern vergessen“, heißt es in ihrem Tagebuch.
Die Spuren des russischstämmigen Malers prägen auch heute noch das „Münterhaus“ in Murnau am Staffelsee, das Münter und Kandinsky bei einem ihrer Ausflüge ins Oberbayerische entdeckt hatten. Das 1908 erbaute Landhaus an der Kottmüllerallee war damals noch das einzige Gebäude jenseits der Bahnlinie, malerisch auf einer Anhöhe gelegen mit weitem Blick auf Dorf, Moor und Berge. Beide waren verzaubert von der idyllischen Lage, viele ihrer dort entstandenen Gemälde nehmen die geschauten Motive auf: „Nirgends hatte ich eine solche Fülle von Ansichten vereint gesehen, wie hier in Murnau, zwischen See und Hochgebirge, zwischen Hügelland und Moos“, erinnerte sich Gabriele Münter.
Kandinsky brachte sie dazu, das Haus 1909 aus ihrem elterlichen Erbe zu erwerben. Das Paar bewohnte es bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Sommermonaten, denn das neue Heim verfügte weder über Strom noch Wasseranschluss und war nur über den Küchenherd beheizbar. Kandinsky widmete sich mit Hingabe dem Zier- und Nutzgarten. „Er lebte wie ein Naturapostel“, schrieb Münter. Auch der Schriftsteller Hermann Hesse versuchte sich zu dieser Zeit in einem ganz ähnlichen Haus und Garten am Bodensee im selbstgewählten Landleben.
Beim Dorfschreiner bestellte das Paar Holzmöbel und bemalte sie eigenhändig. Viele Stücke sind bis heute erhalten. Im Erdgeschoss lagen Ess-und Wohnzimmer, Küche und Musikzimmer, in dem Kandinskys Harmonium stand. Eine von ihm bemalte Treppe mit Reiter- und Pflanzenmotiven führt ins Obergeschoss mit Schlafzimmern, Gästezimmer und Atelier. Noch immer leuchten Wände, Möbel und Hinterglasbilder in satten Farben - eine Farbintensität, die sich auch in den Bildern des Künstlerduos findet.
Murnau war für beide ein entscheidender Wendepunkt ihres Schaffens Hier fand die Abkehr vom Spätimpressionismus hin zum Expressionismus statt. Flächig aufgetragene Farbfelder sollten in den Bildern Raumwirkung erzeugen: „Ich habe da nach einer kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen des Inhaltes – zum Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes“, schrieb Gabriele Münter. Inspiriert wurde das Künstlerpaar von der bäuerlichen Volkskunst und der regionalen Tradition der Hinterglasmalerei, in der beide das Ursprüngliche und Unverstellte bewunderten.
Das „Russenhaus“, wie die heimische Bevölkerung ihren Wohnsitz argwöhnisch nannte, entwickelte sich zum geistigen und künstlerischen Zentrum der Avantgarde. Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, Franz Marc, August Macke und Arnold Schönberg gingen hier ein und aus. Im Haus fanden die Arbeitssitzungen zur Vorbereitung des Kunstalmanachs „Der Blaue Reiter“ (1912) statt und Kandinsky verfasste dort Teile seiner kunstphilosophischen Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ (1911).
Doch während Wassily Kandinsky zunehmend in die Abstraktion vorstieß, blieb Gabriele Münter der gegenständlichen Darstellung treu. Künstlerisch wie menschlich trieb das Paar immer weiter auseinander, bis der Erste Weltkrieg dann den äußeren Schlusspunkt setzte. Die Künstlervereinigung „Der Blaue Reiter“ zerbrach nach nur dreijährigem Bestehen, die Freunde August Macke und Franz Marc fielen an der Front. Kandinsky, der als russischer Staatsbürger nun zum feindlichen Lager gehörte, floh aus Deutschland und kehrte über die Schweiz nach Russland zurück.
Im neutralen Stockholm trafen sich Münter und Kandinsky 1916 ein letztes Mal. Danach brach Kandinsky den Kontakt ab. Erst Jahre später erfuhr die Sitzengebliebene, dass ihr ehemaliger Geliebter sein Eheversprechen gebrochen und 1917 Nina Andrejevskaja geheiratet hatte. Eine Liebe, die 1902 in der Münchner Kunstschule „Phalanx“ begonnen hatte, endete für Gabriele Münter mit einem schmerzlichen Verrat.
Verletzt und verbittert mied sie Murnau für lange Zeit. „Hier kann ich nicht frei werden von der Reue und Qual des nie erfassten, nie gelebten Lebens.“ Erst 1931 kehrte sie dauerhaft in das Haus zurück, das sie bis zu ihrem Tod 1962 zusammen mit ihrem neuen Lebensgefährten, dem Kunsthistoriker Johannes Eichner, bewohnte.
In den 1920er Jahren war es zu einem heftig geführten Rechtsstreit zwischen den ehemaligen Liebenden gekommen. Kandinsky forderte seine Bilder zurück, die er bei der Abreise aus Deutschland in die Obhut Gabriele Münters gegeben hatte. Doch die meisten seiner Werke wurden ihr gerichtlich zugesprochen. Sie war es dann auch, die seine Bilder, wie auch ihre eigenen und die der Künstlerfreunde, die schon bald als „entartet“ verunglimpft wurden, in ihrem Murnauer Kellerversteck vor dem Zugriff der Nationalsozialisten rettete. Einen Großteil dieses sorgsam gehüteten Kunstschatzes aus dem „Millionenkeller“ vermachte sie zu ihrem 80. Geburtstag der Stadt München. Spätestens mit dieser spektakulären Schenkung begann die breitere Öffentlichkeit endlich auf die Künstlerin aufmerksam zu werden.
Im Münterhaus steht noch heute das von Kandinsky bemalte Schränkchen, das ein Reiterpaar zeigt. Der Reiter wendet sich nach der Frau um, als wollte er sie antreiben. Ein Sinnbild für ihre Beziehung? Gabriele Münter hat diese Sicht später in ihrem Tagebuch revidiert: „Manchmal hat mich dieser Scherz geärgert, weil er unwahr ist ─ denn er wandte sich nie um und sagte nie ‚Komm mit‘.“ Stattdessen suchte sie ihren eigenen Weg und sah sich, wie sie kurz vor ihrem Tod schrieb, endlich als eigenständige Künstlerin angekommen: „Es ist nun eingetreten, was Kandinsky mir schon früh prophezeit hatte, wenn ich als Frau immer zurückgesetzt und übersehen wurde, dass spät, aber sicher die allgemeine Anerkennung kommen werde.“
Auch in England entstand zur gleichen Zeit ein Künstlerhaus, das von einem Paar im Inneren vollständig bemalt wurde: Vanessa Bell und Duncan Grant.