Vanessa Bell

Charleston, England

Foto: Wikimedia commons/George Charles Beresford (Ausschnitt)

Es ist hier ganz bezaubernd.

28.05.1879

07.04.1961

www.charleston.org.uk

Lange bevor die 68er-Generation mit ihren libertären Kommune-Idealen die bundesrepublikanische Gesellschaft aufmischte, hatte es alternative Lebensmodelle gegeben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es die Malerin Vanessa Bell, die sich ein Gegenleben zum repressiven viktorianischen Lebensstil ihres Elternhauses erkämpfte. 1904, nach dem Tod ihres herrschsüchtigen Vaters Sir Leslie Stephen, suchte sie so schnell wie möglich das Weite, nahm sich eine Wohnung im Londoner Stadtteil Bloomsbury und scharte schon bald einen Kreis aus Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern um sich, der als legendäre Bloomsbury Group in die Kulturgeschichte einging. John Maynard Keynes, Roger Fry, Lytton Strachey, Duncan Grant, David Garnett gehörten ebenso dazu wie Clive Bell, seit 1907 Vanessas Ehemann, sowie ihre jüngere Schwester Virginia, seit 1912 mit Leonard Woolf verheiratet.

Mitten im Ersten Weltkrieg, da war Vanessa bereits wieder von Clive Bell getrennt und Mutter zweier kleiner Söhne, sah sie sich nach einer neuen Bleibe außerhalb Londons um. Ihr Geliebter Duncan Grant und dessen bisexueller Liebhaber David Garnett waren als Pazifisten gezwungen, eine Arbeit auf dem Lande nachzuweisen, um dem Dienst an der Waffe zu entgehen. 1916 wurde Vanessa fündig. Sie konnte ein bäuerliches Anwesen in East Sussex pachten, das ihre in der Nähe lebende Schwester Virginia Woolf für sie aufgetan hatte. Mit Köchin, Hausmädchen und Kinderfrau – ja, Dienstboten waren in dieser Gesellschaftsschicht immer noch eine Selbstverständlichkeit – zogen Vanessa, ihre beiden Söhne sowie Duncan Grant und David Garnett schließlich aufs Land. „Charleston Farmhouse“, ohne Strom und fließendes Wasser, war zunächst als Sommerrefugium gedacht. „Es ist hier ganz bezaubernd. Ich muss dir das Haus bald zeigen. Ich finde es wirklich ideal“, schrieb Vanessa an Roger Fry. Aber natürlich war klar, dass es viel zu tun geben würde. „Die Zimmer müssen renoviert werden, und die Tapeten schauen scheußlich aus.“

„Charleston Farmhouse" entwickelte sich bald zum ländlichen Treffpunkt des Bloomsbury-Kreises. Auch Clive, mit dem Vanessa weiterhin verheiratet blieb, wohnte phasenweise dort. Und wie John Maynard Keynes hatte er im Haus ein eigenes Zimmer. Als 1918 die Tochter Angelica geboren wurde, gab sich Clive als Vater aus. Erst Jahre später erfuhr Angelica, dass es sich bei dem bisexuellen Duncan Grant um ihren leiblichen Vater handelte. Dieser queere Patchwork-Haufen mit wechselnden Liebschaften zwischen Bewohnern und Gästen wollte mit dem konventionellen Familienbild und den prüden viktorianischen Moralvorstellungen nichts mehr zu tun haben. Als Angelica dann aber später David Garnett, einen der Liebhaber ihres Vaters heiratete, kam sogar Vanessas und Duncans Toleranz an ihre Grenzen.

Vanessa war der dominierende Mittelpunkt dieser illustren Runde. Als „eine Mischung aus Göttin und Bauersfrau, die mit den Füßen auf Wolken tritt und mit den Händen Erbsen pult“, sah Virginia ihre ältere Schwester. Sie „präsidiert über eine höchst erstaunliche Menage“, schrieb Virginia, „belgische Hasen, Gouvernanten, Kinder, Gärtner, Hühner, Gänse, und dabei malt sie die ganze Zeit, bis jeder Zentimeter des Hauses eine andere Farbe hat.“ Und auch wenn Duncan Grant aus seinen homosexuellen Beziehungen keinen Hehl machte, hielt Vanessa an ihm fest, denn die Liebe war auch die Liebe zur kollektiven künstlerischen Ausgestaltung des Hauses. „Charleston Farmhouse" war ihr gemeinsames Projekt, ihr Kunstwerk. 

In Kooperation mit Vanessa und Duncan hatte der Maler und Kunstkritiker Roger Fry 1913 die Designwerkstatt „Omega Workshops“ gegründet, in der Handwerk und dekorative Künste ähnlich wie in der Arts-und-Crafts-Bewegung von William Morris wieder zu ihrem Recht kommen sollten. „Es ist an der Zeit, Möbeln und Stoffen etwas Spaß einzuhauchen. Zu lange schon leiden wir unter diesem langweiligen und dummen Ernst“, forderte Fry. Viele dieser Designentwürfe stammen von Vanessa und Duncan, und „Charleston Farmhouse" war der Schauplatz, an dem der Omega-Stil gestalterisch perfekt zum Ausdruck kam.

Roger Fry war es auch, der 1910 und 1912 erstmals durch zwei Londoner Ausstellungen die moderne Kunst nach England brachte. Die Bilder etwa von Matisse, Picasso, Cézanne oder van Gogh, denen er kurzerhand den Stempel „Postimpressionisten“ aufdrückte, waren eine Provokation für den traditionsverhafteten englischen Kunstgeschmack und zugleich ein Wendepunkt. Auch Vanessa und Duncan ließen sich von dieser modernen Bildsprache inspirieren. Kraftvolle Farben und eine flüchtig-flächige Pinselführung zeichnen ihre Gemälde und Dekorationen aus. Vanessas Bilder wirken oft, als seien sie „aus fliegenden Sätzen gebaut“, diagnostizierte Virginia Woolf.

Alles, wirklich alles in „Charleston Farmhouse" wurde bemalt: Türen, Tische, Stühle, Schränke, Truhen, Betten, Kamine, Kacheln, Badewannen, Regale, Fensternischen, Geschirr, Vasen. „A little housepainting“, nannte es Vanessa. Und natürlich entkamen auch die Vorhänge, Teppiche und Möbelbezüge nicht dem Gestaltungsfuror. Das Gebäude war in ständigem Wandel, Kunst und Leben sollten sich im freien kreativen Fluss gegenseitig bereichern. Das farbenfrohe, verspielte Interieur des Hauses verlängert sich bis hinein in die Pflanzenvielfalt des Gartens. "Charleston Farmhouse", das sich auch stilistisch vom dunklen viktorianischen Wohnen befreit hatte, strahlt in seinem Shabby-Look eine lässige Gemütlichkeit aus.

Aber das besonnte Leben in Charleston barg auch grausame Schatten. Zwei Weltkriege mussten überstanden werden, 1932 starb Lytton Strachey, 1934 Roger Fry, 1937 fiel Vanessas älterer Sohn Julian im Spanischen Bürgerkrieg, 1941 ertränkte sich Virginia Woolf. „Ich werde heiter, aber niemals mehr glücklich sein“, schrieb Vanessa an Vita Sackville-West. Ihr Selbstporträt im Gartenzimmer zeigt sie als ältere Frau mit resignativ-müdem Blick. Sie starb 1961 in ihrem Zimmer in "Charleston Farmhouse".

Vanessa Bell schuf sich zusammen mit ihren Bloomsbury-Freunden einen bis heute bemerkenswerten Lebensstil. Denn die Sehnsucht nach einem kreativen Landkommune-Leben, in dem alle nach ihrer Façon frei leben und lieben können, hat wohl nichts von seiner Faszination verloren.

Vanessa Bell, Gabriele Münter, Paula Modersohn-Becker: Drei nahezu gleichaltrige Künstlerinnen, die mutig nach einer eigenen modernen Bildsprache suchten. Schade, sie haben sich persönlich nie kennengelernt.