Lee Miller

Chiddingly, England

Foto: Creative commons/U.S. Army Official Photograph, 1943 (Ausschnitt) https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Aus irgendeinem Grund möchte ich immer lieber woanders sein.

23.04.1907

21.07.1977

www.farleyshouseandgallery.co.uk

„Aus irgendeinem Grund möchte ich immer lieber woanders sein. Das ist ganz einfach meine Ruhelosigkeit – mein juckender Hintern“, sagte Lee Miller einmal über sich selbst. Atemlos folgt man ihren Lebensspuren, den abrupten Wechseln der Lebensorte, Liebhaber, Tätigkeiten. Diese aparte blonde Frau bahnte sich mit Eigensinn und Freiheitsdrang ihren Weg. Bereits im amerikanischen Elternhaus kam sie auf nicht ganz unumstrittene Weise mit der Fotografie in Berührung. Ihr Vater, ein Amateurfotograf, lichtete seine schöne Tochter bis ins Erwachsenenalter hinein nackt ab. Hinzu kam, dass sie als Siebenjährige von einem „Freund der Familie“ vergewaltigt worden war. Die Bindung zum Vater blieb dennoch eine lebenslange Konstante.

1926 entschied sie sich, Bühnenbild und Beleuchtung in New York zu studieren. Im selben Jahr kam es dann mitten in Manhattan zu einer geradezu märchenhaften Szene. Fast wäre Lee in ein herannahendes Auto gelaufen, wenn sie nicht in letzter Sekunde von einem Passanten zurückgezogen worden wäre. Zufällig war der Retter kein Geringerer als der mächtige Verleger Condé Nast, Herausgeber von Magazinen wie „Vogue“ und „Vanity Fair“. Bezaubert von der 19-Jährigen bot er ihr spontan einen Vertrag als Fotomodell an. Wenige Monate später hatte Lee es bereits auf die Titelseite der „Vogue“ geschafft. Zwei Jahre lang posierte sie vor der Kamera als gefragtes Glamourgirl.

Dann zog es sie weiter. 1929 wurde sie in Paris bei dem surrealistischen Fotokünstler und Maler Man Ray vorstellig, erklärte sich kurzerhand zu seiner Schülerin und bald darauf zu seiner Muse und Geliebten. Auch Man Ray war fasziniert von ihr, lehrte sie das fotografische Handwerk und machte sie mit der Pariser Avantgardeszene bekannt. Von vielen dieser Künstler schuf Lee im Lauf ihres Lebens herausragende Porträtfotografien, die meisten von Picasso, aber auch etwa von Joan Miró, Max Ernst, Jean Cocteau, René Magritte und Paul Éluard. Die Zusammenarbeit mit Man Ray war für beide inspirierend und fruchtbar, Lee entwickelte bald ihre eigene Bildsprache. Nach drei Jahren verließ sie Man Ray und gründete zunächst in Paris, dann in New York ihr eigenes Studio für Porträt- und Modefotografie.

1934 heiratete sie den wohlhabenden ägyptischen Geschäftsmann Aziz Eloui Bey und zog mit ihm nach Kairo. Hier entstanden faszinierende, an der Ästhetik des Surrealismus geschulte Landschaftsaufnahmen. Während eines Aufenthalts in Paris lernte sie 1937 den surrealistischen Maler Roland Penrose kennen, ging mit ihm auf Reisen, ließ sich zwei Jahre später von Bey scheiden und folgte dem neuen Geliebten nach England.

In London erlebte das Paar den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Zerstörungen durch die deutschen Luftangriffe hielt Lee im Auftrag der „Vogue“ fotografisch fest. Als die USA in den Krieg eintraten, erkämpfte sie sich 1944 die Akkreditierung als Kriegsreporterin. Zusammen mit dem „Time Life“-Fotografen David E. Scherman, der zeitweise auch ihr Liebhaber war, dokumentierte sie in Texten und Bildern die Landung der Alliierten in der Normandie und die Befreiung von Paris. Im Tross der amerikanischen Infanterietruppen begleitete sie danach den alliierten Vormarsch nach Deutschland. „Ein gutes Jahr lang sah sie mit gelegentlichen Ausnahmen aus wie ein ungemachtes und ungewaschenes Bett. Sie trug olivfarbenen Drillich und schmutzige GI-Stiefel. Und sie schlang, ohne Pille oder Pulver, jede Art Futter herunter, das der jeweilige Kantinensergeant noch als solches für geeignet hielt. Es bekam ihr gut“, erinnerte sich Scherman.

Lee fotografierte die kriegszerstörten deutschen Städte, Hitlers brennenden Berghof auf dem Obersalzberg und die befreiten Konzentrationslager Buchenwald und Dachau. „Den Gestank von Dachau in meiner Nase bin ich nie wieder losgeworden“, schrieb sie später. Es entstanden Bilder des Grauens, von den Opfern wie von den Tätern. Ihre Kamera hielt mit Genauigkeit und Härte die Leichenberge der KZ-Insassen genauso fest wie die Leiche eines SS-Offiziers in einem Kanal beim KZ Dachau oder die Familie des Nazibürgermeisters, die im Leipziger Rathaus in den kollektiven Selbstmord gegangen war. Einige dieser schockierenden Bilddokumente erschienen in der amerikanischen „Vogue“ unter dem Titel „Believe it!“. Die erlebten Greuel konnte Lee Miller vermutlich selbst kaum glauben. Umso wichtiger erschien es ihr, das Unvorstellbare für die Welt festzuhalten.

Das wohl bekannteste Foto zeigt Lee Miller in Hitlers Badewanne. Scherman hatte das bis ins Detail inszenierte Foto am 30.4.1945, einen Tag nach der Befreiung von Dachau, aufgenommen, in Hitlers Münchner Privatwohnung, von der Lee sagte: „Sie hatte weder Eleganz noch Charme“. Zu diesem Zeitpunkt wussten die beiden noch nicht, dass Hitler am selben Tag in Berlin Selbstmord begangen hatte. Die Aufnahme ist von einer vielschichtigen Symbolkraft. Eingedrungen in den persönlichsten Bereich des besiegten Feindes, wäscht sich die nackte Lee Miller in dessen Badewanne den Schmutz von der Haut. Davor liegen ihre Militäruniform und ihre Lederstiefel, an denen noch der Dreck von Dachau gehaftet haben soll.

Nach dem Krieg heiratete Lee Roland Penrose und wurde mit 40 Jahren Mutter eines Sohnes. 1949 zog die Kleinfamilie in ein georgianisches Backstein-Cottage in East Sussex, umgeben von weitläufigem Weideland. Penrose, der in früheren Jahren Kontakt zum Bloomsbury-Kreis gehabt hatte, nahm sich bei der Gestaltung von „Farley Farm House“ das Landhaus von Vanessa Bell und Duncan Grant zum Vorbild. Die wohnlich eingerichteten Räume sind noch heute weitgehend original erhalten. Penrose, erfolgreich als Kurator und Autor, umgab sich mit den Werken befreundeter Künstler und legte um das Haus herum einen Skulpturengarten an. Lee hingegen versank jahrelang in Depressionen und Alkoholexzesse. Sie schrieb und fotografierte kaum noch, vernachlässigte sich selbst genauso wie die gelegentlichen Auftragsarbeiten. Nachfragen zu ihren früheren fotografischen Werken wiegelte sie strikt ab.

Noch einmal konnte sie sich schließlich neu erfinden, rettete sich ins kreatürliche Kochen und Gärtnern, fand als Gourmetköchin und Gastgeberin Anerkennung. Eine von Picasso bemalte Keramikkachel, die er ihr bei einem Besuch geschenkt hatte, ist bezeichnenderweise über dem Küchenherd angebracht.

Mit siebzig Jahren starb Lee Miller in „Farley Farm House“ an Krebs. Ihre Asche wurde im Garten verstreut. Erst nach ihrem Tod wurde die umfangreiche Sammlung von Fotografien, Briefen und Dokumenten auf dem Dachboden entdeckt. Dort in Kisten hatte Lee ihr altes Leben unter Verschluss gehalten. Ihr Sohn Antony, selbst ahnungslos über die Vergangenheit seiner Mutter, machte sich die Nachlassverwaltung zur Aufgabe.

So vieles hat Lee Miller in ihrem bewegten Leben mit ihrem Kameraauge gesehen, ein unschätzbar wichtiges zeit- und lebensgeschichtliches Zeugnis zwischen Schönheit und Schrecken.