Paula Modersohn-Becker
Worpswede, Deutschland
Es ist ein Konzentrieren meiner Kräfte auf das Eine.08.02.1876
20.11.1907
Über das Gemälde „Sommerabend“ von Heinrich Vogeler ist schon vieles gesagt worden. Es gilt als Schlüsselwerk, das bereits 1905 die Entfremdung und letztlich den Zerfall der Worpsweder Künstlergemeinschaft ahnungsvoll ins Bild gesetzt hat. Auch Paula Modersohn-Becker ist Teil dieses Barkenhoff-Ensembles: sitzend, im Profil, mit versonnenem, ernstem Blick. Ihr Gatte, der Maler Otto Modersohn, steht im Hintergrund, auch er allein und in sich gekehrt.
Paula war 1898 in das Torfbauerndorf Worpswede nahe Bremen übergesiedelt, anfangs als Malschülerin von Fritz Mackensen. Denn Frauen blieb damals der Zugang zur akademischen Kunstausbildung verwehrt, sie mussten mit privatem Zeichenunterricht vorliebnehmen. Paula emanzipierte sich schnell von den herrschenden Malkonventionen der ländlichen Künstlerkolonie wie auch von den bürgerlichen Vorstellungen ihrer Herkunftsfamilie. „Ich sehe, dass meine Ziele sich mehr von den Euren entfernen werden, dass Ihr sie weniger und weniger billigen werdet. Und trotz alledem muss ich ihnen folgen. Ich fühle, dass alle Menschen sich an mir erschrecken, und doch muss ich weiter. Ich darf nicht zurück“, schrieb sie als 22-Jährige an ihre Schwester.
Auch die Heirat 1901 mit dem elf Jahre älteren Witwer Otto Modersohn änderte daran nichts. Insgesamt viermal in ihrem kurzen Leben trieb es sie aus der Dorfenge hinaus in die Weltstadt Paris. Dort in den Museen, Ateliers und Galerien fühlte sie sich am Puls der Zeit. Sie besuchte Auguste Rodin und begegnete den Werken Paul Cézannes, die „wie ein Gewitter“ auf sie wirkten, sie studierte im Louvre die Alten Meister und die ägyptischen Mumienbilder. Aus all diesen Anregungen schärfte und formte sie ihre ganz eigene Bildsprache – noch vor den deutschen Expressionisten der „Brücke“ und des „Blauen Reiter“. „Die Farbe ist famos, aber die Form? Der Ausdruck! Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins“, kommentierte Otto Modersohn Paulas eigenwilligen Malstil, in dem sie, zurück in Worpswede, die einfachen Dörfler porträtierte.
Ihre rohe, flächige, in Form und Farbe reduzierte Malerei war mit den gängigen ästhetischen Normen des Kunstmarktes nicht kompatibel. In der einzigen Ausstellung, in der sie sich mit zwei Bildern dem öffentlichen Blick stellte, wurde sie gedemütigt und verspottet. Gerade mal eine Handvoll Bilder hat sie in ihrem ganzen Leben verkauft. Wieviel Kraft muss es gekostet haben, dennoch unbeirrt weiterzumachen, ohne Anerkennung und wohl sehr allein in ihrer mutigen Selbstbehauptung. „Es ist ein Konzentrieren meiner Kräfte auf das Eine“, schrieb sie 1906 an ihre Mutter.
Die Unbedingtheit und Entschiedenheit, mit der sie ihren künstlerischen Weg ging, war letztlich auch für die Ehe mit dem bodenständigen Otto ein Hindernis, obwohl sie anfangs versuchte, der Rolle als pflichtbewusste Haus- und Ehefrau gerecht zu werden. Ihre Eltern verordneten ihr vor der Heirat sogar einen Kochkurs, den sie allerdings vorzeitig mit der Begründung abbrach: „Es ist gut, sich aus Verhältnissen zu lösen, die einem die Luft nehmen.“ Immerhin rettete sie der Ehestand vor einem missliebigen Beruf, mit dem sie als unverheiratete Frau für ihren Lebensunterhalt hätte sorgen müssen.
Mit Besessenheit und Radikalität erforschte sie malend „das seltsame Wesen der Dinge“, auch sich selbst. Es entstehen viele Selbstbildnisse, darunter die erste Aktdarstellung einer Künstlerin in der Kunstgeschichte. Wie Dürer vierhundert Jahre zuvor seinen männlichen Körper malend studiert hatte, überschritt auch die nackte Paula die Grenzen der damaligen Konvention. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Ob es diese Ahnung war, die sie bereits mit 24 Jahren überfiel: „Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig. Ist ein Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest, ein kurzes, intensives Fest“, heißt es in ihrem Tagebuch. „Und wenn nun die Liebe mir noch blüht, vordem ich scheide, und wenn ich drei gute Bilder gemalt habe, dann will ich gern scheiden mit Blumen in den Händen und im Haar.“
Noch einmal bricht sie 1906 nach Paris auf, trennt sich von Otto, versöhnt sich wieder mit ihm und wird schwanger – endlich, nachdem ihr Ehemann sie fünf Jahre lang nicht „zu seiner Frau“ gemacht hatte. Otto gab seinen Nerven die Schuld. Nach der Geburt der Tochter Mathilde im November 1907 wurde Paula Bettruhe verordnet. Als sie das erste Mal aufstehen durfte, verstopfte ein Blutpfropf das Herz. „Wie schade“ sollen ihre letzten Worte gewesen sein. Sie starb, gerade einmal 31 Jahre alt, im Modersohn-Haus und ist auf dem Worpsweder Friedhof begraben.
Das Modersohn-Haus mitten in Worpswede ist ein einfaches blassgelbes Holzhaus. Otto hatte es 1897 gekauft und nach Paulas Tod aufgegeben. Das Interieur ist teilweise rekonstruiert, einige Modersohn-Gemälde zieren die Wände. Es fällt schwer, sich die freigeistige Paula an diesem Ort vorzustellen. Hier lebte sie sechs Jahre mit Otto und der kleinen Elsbeth, die Modersohn mit in die Ehe gebracht hatte. Vielleicht spräche ihr heute nicht mehr existierendes Atelier mehr von ihr, das sie auch während ihrer Ehe als Arbeits- und Rückzugsort in einem außerhalb gelegenen Bauernhof beibehielt.
Im modernen Anbau des Modersohn-Hauses werden Originalgemälde ihrer ehemaligen Worpsweder Künstlerkollegen gezeigt. Ihre eigenen Bilder hängen als Reproduktionen im Foyer und wirken in ihrer dichten Aneinanderreihung stumm und seelenlos. Dann doch lieber ein Blick auf die ausgestellten Fotografien: Paula als glücklich erschöpfte Mutter mit dem schlafenden Neugeborenen – vermutlich das letzte Foto vor ihrem Tod.
Erst posthum wird die künstlerische Meisterschaft Paula Modersohn-Beckers erkannt, über 700 Gemälde, die zu ihren Lebzeiten in ihrer Gesamtheit wohl von niemandem je wahrgenommen wurden, hat sie in den wenigen Schaffensjahren hinterlassen. 1927 wurde sie als erste Malerin der Welt in Bremen mit einem eigenen Museum gewürdigt. Heute ist sie die bekannteste und modernste aus der Worpsweder Künstlergruppe. Ein Solitär, wie es Heinrich Vogeler in seinem Gemälde bereits andeutete und Otto Modersohn, der abseitsstehende Gatte, es 1902 im Tagebuch festhielt: „Keiner kennt sie, keiner schätzt sie – das wird anders werden.“