Henry van de Velde
Weimar, Deutschland
Foto: Wikimedia commons/Nicola Perscheid,1904 (Ausschnitt)
03.04.1863
25.10.1957
Wenn das “Haus Hohe Pappeln“ an der Belvedere Allee heute noch manchen an einen gestrandeten Dampfer erinnert, lässt sich ahnen, wie irritierend dieses Wohnhaus des belgischen Architekten und Designers Henry van de Velde auf seine Zeitgenossen gewirkt haben muss. Dass es mehr als ein Jahrhundert später noch existiert, ist ein Glücksfall - denn es veranschaulicht geradezu idealtypisch die kunstreformerischen Ideen des Multitalents van de Velde.
1902 wurde Henry van de Velde von Großherzog Wilhelm Ernst nach Weimar berufen - auf Betreiben von Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche. Ziel war es, künstlerisch beratend und inspirierend auf das ansässige Handwerk einzuwirken und es langfristig konkurrenzfähiger zu machen. Doch Kessler und van de Velde hatten noch weit Größeres im Sinn. Die kleine Residenzstadt sollte nach der Weimarer Klassik um Goethe und Schiller sowie der musikalischen Erneuerungsbewegung um Wagner und Liszt ein weiteres Mal zum Nabel der Kunstwelt werden.
Mit großem Elan machte sich Henry van de Velde an seine Aufgabe. Als Direktor der Weimarer Kunstgewerbeschule gründete er das Kunstgewerbliche Seminar, um seine Vision eines „Neuen Stils“ breitenwirksam zu verwirklichen. Denn noch immer war der Historismus, der sich an vergangenen Stilepochen orientierte und monumental und überladen daherkam, der staatskonforme Kunstgeschmack im Wilhelminischen Kaiserreich. Angelehnt an die Ideen der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung um William Morris und John Ruskin ging es van de Velde um ein neues Kunstverständnis, eine natürliche Verbindung von Schönheit und Zweckmäßigkeit in allen Lebensbereichen. Deshalb distanzierte er sich nicht nur vom muffigen Historismus, sondern auch von der Schnörkelverliebtheit des Jugendstils. Sein Kunstverständnis ließ nur eine abstrakte, klare Formensprache gelten: „Die Zeit des Ornaments aus Blüten, Haaren und Weibern ist vorbei.“
Henry van de Velde dachte ganzheitlich. Er entwarf nicht nur Gebäude, sondern auch deren komplette Inneneinrichtung: Möbel, Tapeten, Buchumschläge, Kerzenständer, Brieföffner, Besteck, Geschirr - bis hin zum Menükartenhalter und zur Hummerzange. Alles war bis ins Detail aufeinander abgestimmt. Selbst Kleidung und Schmuck der Dame des Hauses unterlagen seinem umfassenden Stilwillen. Diese in ihrer Makellosigkeit und Eleganz durchkomponierte Wohnwelt sollte als Gesamtkunstwerk wirken. Der Kunstkritiker Karl Scheffler bemerkte treffend: „Zum Leben in solchen Räumen gehören besonders gebildete und sogar besonders gekleidete Menschen; ganz lebendig werden diese Interieurs erst, wenn sich dekorativ gekleidete Frauen darin bewegen.“
Auch an sein eigenes Wohnhaus, das er 1908 mit seiner Frau Maria und den fünf Kindern bezog, legte van de Velde diese Gestaltungskriterien an. Von außen wirkt das verschachtelte Haus mit tiefgezogenem Walmdach und grober Travertinfassade trutzig verschlossen. Ganz anders hingegen ist die Anmutung im Innern. Van de Velde baute seine Häuser von innen nach außen. Die organische Anordnung und Funktion der Räume bestimmten die äußere Form.
Schon der Eingangsbereich im Hochparterre, in kräftigem Japanrot gehalten, zeigt seine gestalterische Konsequenz: Schlitzschrauben und Lüftungssiebe sind sichtbar, ihre Materialität wird raffiniert als Schmuckelement eingesetzt, denn Funktionalität und Ästhetik waren für van de Velde kein Widerspruch. „Wer zu Anfang nur ein in allen Einzelheiten nützliches Ding schaffen wollte, gelangt zur reinen Schönheit“, so sein Credo.
Vom Flur führt der Weg in die lichtdurchflutete Wohndiele, das eigentliche Zentrum des Hauses, von dem aus alle anderen Räume ausgehen: die Repräsentationsräume – Salon, Speise- und Arbeitszimmer – lassen sich durch Schiebetüren zu einer imposante Raumfolge verbinden. Über eine geschwungene Treppe gelangt man zu den Privaträumen im Obergeschoss. Ein separates Treppenhaus verband Küche und Kinderspielzimmer im Souterrain mit den übrigen Geschossen. Dort befanden sich auch ein Speiseaufzug und ein kleines Beobachtungsfenster zum Esszimmer - ein diskreter Platz für die Bediensteten, um den richtigen Moment zum Auf- und Abtragen der Mahlzeiten abzupassen.
Dieses Nebentreppenhaus – ein kluger Trick, den zum Beispiel auch der Architekturkollege Victor Horta anwandte – erlaubte es, Personal und Kinderschar vom sonstigen Leben im Haus zu separieren. Es ermöglichte den Kindern, die nach den liberalen Ideen der damals modischen Lebensreformbewegung erzogen wurden, nach Herzenslust herumzutoben, wuchsen sie doch auf „in der Unschuld und Fröhlichkeit eines sorglosen Lebens ohne Krankheiten, ohne konventionellen Zwang und ohne von allzu viel Arbeiten gequält zu werden, in der Fülle ihrer Kräfte und in der freien Entwicklung ihres Wesens.“ Freilich kamen dem Vater zuweilen auch Zweifel an dieser pädagogischen Methode, wie wir aus den Tagebüchern Harry Graf Kesslers wissen.
Auch der Garten war Teil des Gestaltungskonzepts. Ein Rondell vor dem Hauseingang ermöglichte Kutschen ein bequemes Auffahren. Seitlich führte eine Terrasse zum Kiesplatz mit Brunnen und der Skulptur des „Knieenden Jünglings“ von George Minne. Der Nutzgarten lag, zweckmäßig getrennt, auf der rückwärtigen Gebäudeseite.
Diese Wohnidylle endete jäh mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Das aufkommende ausländerfeindliche Klima, das auch den Großherzog auf Distanz zu dem Belgier gehen ließ, veranlasste van de Velde, seine Stellung aufzugeben. 1917 gelang ihm schließlich die Ausreise in die Schweiz. Doch van de Velde, der die fünfzehn Weimarer Jahre in seiner Autobiographie als „Hoch-Zeit“ erinnerte, hinterließ in Weimar glücklicherweise bis heute sichtbare Spuren - etwa die Inneneinrichtung des Nietzsche-Archivs und die Kunstgewerbeschule.
Genau dort wurde 1919 das Staatliche Bauhaus gegründet, unter der Leitung von Walter Gropius, den van de Velde als seinen Nachfolger vorgeschlagen hatte. Dies ist sicherlich die bedeutendste Spur Henry van de Veldes, die weit in die Zukunft des Bauens hineinreicht. Im Bauhaus leben seine Ideen fort - und im „Haus Hohe Pappeln“ liegen ihre Wurzeln.