Richard Dehmel
Hamburg, Deutschland
Nur Verklärung braucht das Leben.18.11.1863
08.02.1920
Es ist still geworden um Richard Dehmel. Dabei gab es einmal eine Zeit, in der er zu den bekanntesten deutschen Dichtern gehörte und sein Wohnsitz in Hamburg-Blankenese eine begehrte Adresse war. Im Dehmelhaus verkehrte das Who is Who der damaligen fortschrittlich gesinnten Menschen. Richard Dehmel und seine zweite Frau Ida waren begnadete Netzwerker. Im Gästebuch und in der umfangreichen Korrespondenz finden sich zahlreiche Namen, die um 1900 für Aufbruch und Erneuerung standen: Gerhart Hauptmann, Max Liebermann, Walter Rathenau, Peter Behrens, Henry van de Velde, Harry Graf Kessler, Richard Strauss, Gustav Mahler, Gustav Klimt, Stefan Zweig, Max Klinger, Hugo von Hofmannsthal. Der Einfluss Richard Dehmels auf die Kunst von Malern, Dichtern und Musikern ist nicht zu unterschätzen. So geht zum Beispiel Arnold Schönbergs wohl meistgespieltes Stück, das Streichsextett „Verklärte Nacht“, auf ein Gedicht von Dehmel zurück. „Ihre Gedichte haben auf meine musikalische Entwicklung entscheidenden Einfluss ausgeübt“, ließ Schönberg den Dichter wissen. Und auch die Jüngeren unter den Schriftstellern wie Thomas Mann und Hermann Hesse suchten Dehmels Rat und Unterstützung. „Sie haben mich ja eigentlich ‚entdeckt‘ – mir wenigstens die ersten Ermunterungen zuteilwerden lassen“, bescheinigte ihm Thomas Mann.
Richard Dehmel wurde dermaßen geschätzt, dass ihm Freunde und Gönner zum 50. Geburtstag sogar ein Haus zum Geschenk machten. Erbaut und zunächst finanziert wurde es 1901 von dem Architekten Walther Baedeker, der damit den Wegzug der Dehmels aus Blankenese verhindern wollte. Er bot Dehmel das Gebäude zur Miete an, ließ ihm aber freie Hand bei dessen Gestaltung. „Ostern 1912 bezog Dehmel das Haus, das in jeder Einzelheit Ausdruck seines Wesens geworden ist. Es war ihm geglückt, sich jeden Wunsch zu erfüllen, den er mit einem eigenen Heim verband“, erinnerte sich Ida.
Das Speise-, das Wohn- und Dehmels Arbeitszimmer sind noch heute original erhalten. Dehmel hatte die Möbel, inspiriert von den Jugendstil-Architekten Peter Behrens und Henry van de Velde, größtenteils selbst entworfen. Die Tapeten stammen von Emil Orlik. Im Äußeren weisen die gewinkelten Baukörper und die über Eck verlaufenden Fenster bereits in die Moderne. Das steile Dach und die ockergelbe Fassade erinnern an Goethes Wohnstätten in Weimar. Die Südseite schmückt eine Mädchenskulptur des Bildhauers Richard Luksch.
Dieses Haus war zweifellos die Verwirklichung von Dehmels ästhetischem Lebenstraum. Der Weg dahin war lang. Dehmel, Sohn eines Försters aus dem Brandenburgischen, hatte sich nach seiner Promotion sieben Jahre lang als Sekretär einer Versicherungsgesellschaft verdingt. Seine erste Frau Paula und die drei gemeinsamen Kinder mussten versorgt werden. Daneben schrieb er Gedichte und verkehrte in den avantgardistischen Berliner Künstlerkreisen. Mit den Gedichtbänden „Erlösungen“ und „Aber die Liebe“ kamen die ersten Erfolge. Sein emphatischer Ton huldigte den entfesselten Leidenschaften und Gefühlen. „Ich will ergründen alle Lust, so tief ich dürsten kann; ich will sie aus der ganzen Welt schöpfen, und stürb ich dran“, heißt es 1891. Dehmel war das lyrische Sprachrohr eines modernen Lebensgefühls, das sich von den starren Konventionen der wilhelminischen Ära losgesagt hatte und auf Lebensreform und gesellschaftlich-ästhetische Erneuerung setzte. Oder wie es der Schriftsteller Heinrich Hart formulierte: „Man träumte von einer neuen Renaissance, einem neuen sinnen- und kunstfreudigen Heidentum. Die Worte Lebensfreude, Ausleben, Sinnlichkeit und Freiheit gewannen neuen Inhalt. Die Werte, die Nietzsche geahnt, sollten sich in Leben und Tat umsetzen.“
Als Richard 1895 Ida Auerbach begegnete, die in Berlin als Konsulsgattin einen fortschrittsgesinnten Salon führte, war er Feuer und Flamme. Ida, Tochter eines Weinhändlers aus Bingen und Jugendfreundin Stefan Georges, entschied sich, obzwar von ihrem Ehemann schwanger, für den schwärmerischen Dehmel. Beide ließen sich scheiden, gingen zwei Jahre auf Liebesreise durch Europa, heirateten 1901 in London und mieteten sich anschließend eine Wohnung im ehemaligen Fischerdorf Blankenese vor den Toren Hamburgs.
Die Dehmels zelebrierten ihre außergewöhnliche Liebe – „Wir Welt!“ – und Dehmel überhöhte sie in seinen bekanntesten Büchern, dem Lyrikband „Weib und Welt“ (1896) und dem Versroman „Zwei Menschen“ (1903). „Nur Verklärung braucht das Leben“, war einer seiner Glaubenssätze. Ida genoss die Rolle der extravaganten Muse und Dichtergattin, engagierte sich aber auch eigenständig für die Kunstförderung und das Frauenwahlrecht. Am bedeutendsten war 1926 ihre Gründung der Gedok, der bis heute existierenden Gemeinschaft von Künstlerinnen und Kunstförderern.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, erlag auch Dehmel wie viele andere dem Begeisterungstaumel. Bereits 51 Jahre alt, meldete er sich dennoch freiwillig an die Front. Nach zwei Jahren zwang ihn eine Beinverletzung zur Heimkehr. Diese chronische Venenentzündung kostete ihn schließlich 1920 das Leben. Er starb im Alter von 56 Jahren in seinem Zuhause in Blankenese. Ida, die im Krieg auch ihren einzigen Sohn Heinz-Lux verloren hatte, kümmerte sich in den folgenden Jahren tatkräftig um Dehmels Vermächtnis, bis die Nationalsozialisten ihr 1933 sämtliche Ämter und kulturelle Aktivitäten entzogen. Eine Emigration kam für die Jüdin nicht in Frage, sie wollte das Dehmelhaus und den Nachlass ihres Mannes nicht einem zerstörerischen Schicksal überlassen. Krank und entmutigt nahm sie sich 1942 mit Schlaftabletten das Leben.
Es bleibt in erster Linie ihr Verdienst, das Dehmelhaus als kostbares Schmuckstück und Zeitzeugnis bewahrt zu haben. Auch wenn der Ruhm Richard Dehmels heutzutage verblasst ist, im Dehmelhaus wird die Atmosphäre der Jahrhundertwende noch einmal sehr lebendig.
Auch das Sommerdomizil des Malers Max Liebermann am Wannsee zitiert die Architektur von Goethes Weimarer Gartenhaus. Liebermann porträtierte übrigens Richard Dehmel 1909 für die Hamburger Kunsthalle.